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09. Juni 2020, von Michael Schöfer
Verwirrende Zeiten


Wodurch entstehen eigentlich verwirrende Zeiten? Nun, natürlich zum Teil durch objektive, aber schwer einzuordnende Ereignisse. Teilweise jedoch auch durch die Hysterie der Medien, die jeden Tag eine neue Sau durchs Dorf treiben. Aus einem finanziellen Eigeninteresse heraus treiben müssen, denn ohne Sau keine News. Und ohne spektakuläre News sind Zeitungen scheinbar uninteressant. Fehlt es an entsprechenden Neuigkeiten, werden gerne auch mal welche künstlich produziert.

Ein aktuelles Beispiel: Der Schauspieler Mark Wahlberg habe eine rassistische Vergangenheit, war im österreichischen Standard zu lesen. Wahlberg soll schon mit 13 kokainabhängig gewesen sein, mit 15 habe er Steine nach drei schwarzen Kindern geworfen. Dabei rief er angeblich das N-Wort (vermutlich das rassistische Schimpfwort "Nigger"). Mit 16 habe der spätere Hollywood-Star dann zwei Vietnamesen geschlagen, einen davon sogar bis zur Bewusstlosigkeit, wofür er 45 Tage im Gefängnis saß. [1] Hat das irgendeinen Nachrichtenwert? Es ist unfassbar: Wahlberg ist heute 49 Jahre alt, seine Untaten liegen also 33 Jahre zurück.

Zum Skandal aufgebauscht wird das Ganze, weil sich Wahlberg in einem Instagram-Post betroffen zum Tod George Floyds geäußert hat, doch genau das stoße vielen Menschen angesichts seiner eigenen rassistischen Vergangenheit sauer auf. "Kann ein Mensch sich völlig ändern?", fragt der Standard scheinheilig. Nun, das kann jeder selbst beantworten, denn natürlich vertreten Erwachsene häufig Ansichten, die sich stark von denen zu ihrer Zeit als unreifer Teenager unterscheiden. Das ist jedenfalls bei mir der Fall, und hoffentlich auch bei Ihnen. Menschen lernen - zum Glück - dazu, ihre Persönlichkeit entwickelt sich. Daran ist weder etwas Ehrenrühriges oder Verwerfliches, es ist vielmehr vollkommen normal. Das soll nicht heißen, dass jeder in Jugendjahren Rassist war, aber im Laufe der Zeit hat sich wohl bei den meisten ein etwas differenzierteres Weltbild entwickelt. Wäre ja auch schlimm, die Welt mit 50 noch immer aus dem gleichen törichten Blickwinkel heraus zu beurteilen, wie man das im zarten Alter von 16 getan hat. Okay, zugegeben: US-Präsident Donald Trump ist da offenbar eine unrühmliche Ausnahme.

Mieser Stil ist, einem 49 Jahre alten Mann Jugendsünden vorzuhalten, die so lange zurückliegen. Da wird etwas zum Skandal aufgebauscht, das bei näherem Hinsehen gar kein Skandal ist. Können sich Menschen ändern? Das Gleiche müsste man dann auch bei George Floyd fragen. Laut Wikipedia soll der in Minneapolis von der Polizei getötete Floyd in den Jahren 1997 und 2007 "neunmal in Gerichtsakten des Harris County" aufgetaucht und mehrmals im Gefängnis gewesen sein. 2007 wurde er "wegen eines bandenmäßigen, bewaffneten Raubüberfalls in Houston angeklagt und 2009 zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt". [2] Diese Angaben beruhen auf Recherchen der britischen Daily Mail. Aber: "Nach seiner Haftentlassung 2014 zog er gemeinsam mit Freunden nach Minneapolis, um dort ein neues Leben zu beginnen." Konnte George Floyd zu einem besseren Menschen werden? Na klar, genauso es wie Mark Wahlberg konnte. Ob sie tatsächlich bessere Menschen geworden sind? Wer weiß das schon, bekanntlich kann man nicht in die Köpfe der Menschen hineinsehen.

Aber die Aufregung findet damit immer noch kein Ende, denn der baden-württembergische SPD-Generalsekretär Sascha Binder fordert den Rücktritt des Demografiebeauftragten Thaddäus Kunzmann (CDU). [3] Letzterer hielt es nämlich für notwendig, das Vorstrafenregister des in Minneapolis Getöteten anzusprechen: "Zur Wahrheit gehört auch, dass Floyd ein Gewaltverbrecher mit beträchtlichem Vorstrafenregister war. Niemand von uns wollte ihm in der Nacht begegnen." [4] Kunzmann schreibt, er wolle "aus einem Gewaltverbrecher keine Ikone machen". Wobei das, selbst wenn es wahr wäre, trotzdem keine Rechtfertigung für den brutalen und tödlichen Polizeieinsatz ist. Zur Erinnerung: George Floyd lag bereits mit Handschellen gefesselt am Boden, während der Polizist mit seinem Knie fast neun Minuten lang auf den Nacken von Floyd drückte.

Fassen wir zusammen: Der Standard regt sich über den lange zurückliegenden Rassismus von Mark Wahlberg auf. Nein, präziser: Der Standard "berichtet" darüber, dass sich andere über Wahlberg aufregen. Allein aufgrund der Chronistenpflicht, versteht sich. Der Demografiebeauftragte der baden-württembergischen Landesregierung regt sich seinerseits über lange zurückliegende Straftaten von George Floyd auf. Schließlich regt sich die SPD über Thaddäus Kunzmann auf, was das Sozialministerium wiederum zum Anlass nimmt, sich ebenfalls über den Demografiebeauftragten zu echauffieren. Anscheinend regt sich jeder über jeden auf, man könnte sich köstlich über dieses substanzlose Schauspiel amüsieren. Ich finde allerdings, da wird viel Energie mit sinnlosem Zeug vergeudet, das obendrein auch noch vom Wesentlichen ablenkt. Und das Wesentliche ist der Alltagsrassismus in den USA, der aber, es ist schwer zu leugnen, auch in Deutschland existiert.

Für den Leser sind solche inszenierten "News" völlig nutzlos, weil ihr Nachrichtenwert gegen null tendiert. Viel Geschrei um nichts. Aber weil man in den Medien aus der Fülle an nutzlosem Geschrei kaum noch die wirklich relevanten Nachrichten herausfiltern kann, sind die Menschen verständlicherweise verwirrt. Ihre durch tatsächliche Ereignisse ohnehin schon bestehende Verwirrung wird dadurch bloß gesteigert. Davon profitieren wiederum die Populisten, die auf die kompliziertesten Sachverhalte stets die einfachsten Antworten geben. Schwuppdiwupp sitzt so ein Populist im Oval Office und trägt noch mehr zur Verwirrung bei. Wie sollen wir aus diesem Jammertal je wieder herausfinden?

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[1] Der Standard vom 08.06.2020
[2] Wikipedia, Todesfall George Floyd
[3] SWR vom 08.06.2020
[4] Landespolitik BaWü bei Twitter