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18. Juni 2020, von Michael Schöfer
Generalverdacht


Die Autoindustrie, ehedem eine mächtige und äußerst einflussreiche Branche, hat es sich offenbar bei der Politik gründlich verscherzt. Ihre Forderung, im Konjunkturpaket der Bundesregierung eine Kaufprämie für Autos mit Verbrennungsmotoren vorzusehen, wurde überraschend abgelehnt. Das ist die unvermeidliche Folge einer langjährigen Entfremdung der Branche vom wachsenden Anteil der umweltorientierten Menschen innerhalb unserer Gesellschaft (Stichwort: Fridays for Future). Die Autobauer erweckten den Eindruck, den berechtigten Anliegen der Klimaschützer arrogant und ignorant zu begegnen. Die Kundschaft dreist übers Ohr zu hauen (Stichwort: Diesel-Abgasskandal), war ein riesiger Imageschaden. Der Ruf nach staatlicher Unterstützung trotz Milliardengewinnen und üppiger Dividenden für die Aktionäre brachte dann das Fass endgültig zum Überlaufen. Da wollte selbst die Bundeskanzlerin kein Machtwort mehr sprechen. Die Lektion war bitter für die Autoindustrie, ist aber die zwangsläufige Konsequenz ihres eigenen Verhaltens.

Ähnlich wie der Autoindustrie könnte es den Polizeigewerkschaften ergehen, deren beliebtestes Wort "Generalverdacht" ist. Bestrebungen, rassistisches Gedankengut innerhalb der Polizei überhaupt nur zu erörtern, werden stets mit der ganz großen Keule zurückgewiesen - das sei ein ungeheuerlicher Generalverdacht. Forderungen nach unabhängiger Kontrolle der Polizeiarbeit wird entgegnet: Dadurch wird die Polizei einem unzulässigen Generalverdacht ausgesetzt. Bei Gesetzesinitiativen, die Diskriminierung verhindern sollen, erklingt es genauso: Wir wenden uns entschieden gegen jeden Generalverdacht. Ein "Argument", das sich jedoch allmählich abnutzt, denn in den seltensten Fällen handelt es sich wirklich um einen echten Generalverdacht, sondern vielmehr um den offenkundig notwendigen Versuch, die komplexe Realität differenziert zu beleuchten. Für die Polizeigewerkschaften dagegen ist die Welt meist ziemlich einfach gestrickt: Das, was bei der Polizei tatsächlich schiefläuft, sind angeblich alles bedauerliche Einzelfälle. Bloß die schwarzen Schafe, die es schließlich überall gebe, heißt es gebetsmühlenhaft.

Eine Wagenburgmentalität, die aber auf Dauer kaum ausreichen wird, denn in der Bevölkerung setzte sich zuletzt immer mehr der Ruf nach echter Transparenz bei den Sicherheitsbehörden und die unabhängige Kontrolle derselben durch. Ein Trend, dem sich die Polizei nicht dauerhaft wird entziehen können. Schon allein aus dem Eigeninteresse der Polizeigewerkschaften heraus wäre es daher angebracht, die Diskussion konstruktiv zu begleiten, anstatt sie mit teilweise an den Haaren herbeigezogenen Argumenten zu blockieren. Ignoranz ist bekanntlich kein guter Ratgeber. Andersdenkende zu diffamieren ebenso wenig. Die Welt wandelt sich, die Polizeigewerkschaften müssen sich deshalb ebenfalls wandeln, wollen sie nicht - analog zur Autoindustrie - langfristig an Akzeptanz in der Bevölkerung verlieren. Und mit ihnen die Polizei als Institution.

Wie könnte so eine differenzierte Aufarbeitung aussehen? Die Reportage "Feindbild Polizei. Gewalt und Gegengewalt ohne Ende?", die am 16. Juni in Arte lief, war in meinen Augen ein gutes Beispiel. Anders als der Titel suggeriert, kamen dort beide Seiten zu Wort: Polizisten und betroffene Bürger. Wer hingegen fortwährend mit alarmistisch klingenden Phrasen ("Ein Staat bekämpft seine Diener", "Keine verfassungswidrige Paralleljustiz") sämtliche Vorwürfe leugnet, erweist der Polizei einen Bärendienst. Insbesondere den Polizeibeamtinnen und -beamten, die das primitive Schwarz-Weiß-Denken gründlich satt haben.