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22. Juni 1983, von Michael Schöfer
Abschreckung


1. Das Abschreckungssystem

Vor dem Beginn des Atomzeitalters war Krieg nur die Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln. Der politische Zweck des Krieges bestand darin, dem Gegner den eigenen politischen Willen aufzuzwingen, oder sich dem Willen des Gegners nicht unterwerfen zu müssen. Die Gewalt (als Mittel) war der Politik (als Zweck) zu- und untergeordnet. Krieg wurde nicht als Selbstzweck angesehen. Grundlage dieses Denkens war die Souveränitätstheorie. Ihr lagen folgende Annahmen zugrunde:
  • Staaten sind souverän, d.h. frei, und handeln ausschließlich nach ihren eigenen Interessen.
  • Die Interessen der einzelnen Staaten sind nicht deckungsgleich, aus diesem Grund führen sie einen ständigen Kampf gegeneinander.
  • Jeder Staat muß daher zur Wahrung seiner Interessen Streitkräfte unterhalten, sie ermöglichen ihm die Androhung und Anwendung von Gewalt.
Streitkräfte hatten demzufolge die Aufgabe, einerseits dem Staat als Mittel zu dessen Machtpolitik zu dienen, andererseits die Gegner von der Anwendung ihrer Streitkräfte abzuhalten, also abzuschrecken. Die Bereitstellung von Gewaltmitteln war, im internationalen Zusammenhang gesehen, nichts anderes als ein System der gegenseitigen Abschreckung.

"Abschreckung heißt, so viel Gewaltpotential, also Waffen, bereitzuhalten, daß der mögliche Angreifer in jedem Fall und unter allen denkbaren Umständen mit so schweren Schaden rechnen muß, daß diese den möglichen Nutzen eines Angriffs bei weitem übersteigen" [1]

Im Rahmen der Souveränitätstheorie war Frieden nur ein begrenztes Ziel des Staates. Frieden gab es nur so lange, wie es in dessen Interesse lag. Übertraf der zu erwartende Gewinn die Kosten eines Waffengangs, scheute sich kein Staat zum Mittel des Krieges - zwecks Erreichung eines bestimmten politischen Zieles - zu greifen. Das ist der Grund, warum das Abschreckungssystem, wie die Geschichte lehrt, periodische Zusammenbrüche, also Kriege, nicht verhindern konnte. Die auf der Souveränitätstheorie basierende Machtpolitik der Staaten war auf die Verfügbarkeit des Instruments Gewalt angewiesen, ohne Gewaltandrohung war Machtpolitik unmöglich. Kriege sind logischerweise nicht nur bedauerliche Randerscheinungen der Souveränitätstheorie, sondern systemimmanent. Souveränität, Machtpolitik und Krieg, alle drei Faktoren bedingen sich gegenseitig. Fehlt auch nur einer, sind die beiden anderen nicht aufrechtzuerhalten. Zur Souveränität gehört Machtpolitik, ersteres ist ohne zweites nicht zu gewährleisten. Machtpolitik ist, wie schon betont, ohne Gewalt (Krieg) unmöglich, ohne Souveränität kann der Staat keine Machtpolitik betreiben. Folgt man konsequent dieser These, läßt sich Krieg nur durch Aufgabe von Machtpolitik vermeiden, ein zumindest teilweiser Verzicht auf Souveränität ist dabei aber unumgänglich.

Nachfolgend ein gewiß zur Zeit utopisches Beispiel: Alle Staaten der Erde verzichten auf einen bestimmten Teil ihrer Souveränität, nämlich Streitkräfte zu unterhalten. Eine internationale Streitmacht garantiert allen Staaten ihre politische Unabhängigkeit und territoriale Integrität. Diese Weltpolizei darf nur nach vorher von allen Ländern ausgehandelten und akzeptierten Regeln (Gesetze) aktiv werden. (wenn diese Regeln mißachtet werden) Sie (die Weltpolizei) wird von einem Weltparlament (UNO) kontrolliert, dem alle Länder angehören.

Es würde mit Sicherheit den abgesteckten Rahmen sprengen, in allen Einzelheiten auf Vor- und Nachteile dieses Beispiels einzugehen, auch gibt es sicherlich eine Fülle von anderen Vorschlägen, wie Frieden zu erreichen ist. Vielleicht macht sich jeder selbst einmal Gedanken darüber. Das herkömmliche System der Abschreckung kann m.E. den Frieden nicht erreichen, es hat den Frieden auch in der Geschichte noch nie erreicht. Was Abschreckung garantierte - und das auch nur unvollständig, wie man weiß -, ist die Abwesenheit von Gewalt zwischen Staaten - den sogenannten negativen Frieden. Positiver Frieden bedeutet nicht nur die Abwesenheit von Gewalt, sondern wesentlich mehr. Positiver Frieden bedeutet die Abwesenheit von direkter Gewalt und "struktureller Gewalt". Strukturelle Gewalt könnte man als soziale Ungerechtigkeit bezeichnen. Dem hungernden Kind in Afrika oder Asien, oder dem seit Jahren arbeitslosen Westeuropäer kann man diesen Zustand nicht als Frieden verkaufen. Sie alle empfinden die soziale Ungerechtigkeit, der sie ausgesetzt sind, als Gewalt. [2]

Abschreckung bedeutet nichts anderes als Androhung von Gewalt, folglich ist das Abschreckungssystem kein positiver Frieden. Wo Gewalt ist, gleich in welcher Form, kann positiver Frieden nicht sein. Aber selbst der Bestand des negativen Friedens ist durch die Abschreckungspolitik der Staaten gefährdet, auch seit Einführung von Atomwaffen in die Arsenale einiger Länder. Bevor jedoch die Widersprüche der Abschreckung unter den besonderen Vorzeichen des Atomkriegs aufgezeigt werden, ist ein kleiner geschichtlicher Rückblick auf die Entwicklung des Kriegswesens notwendig.

Machtpolitik in ihrer extremsten Form, also dem Krieg, befand sich bis zum zweiten Weltkrieg durchaus im Einklang mit ihrer Theorie, lediglich die Kriegführungspraxis wandelte sich. Im 18. Jahrhundert (bis zur franz. Revolution) bestanden die Streitkräfte der souveränen Staaten aus reinen Söldnerarmeen. Sie heranzuziehen war teuer und dauerte oft Jahre, ihr Verlust konnte kaum wettgemacht werden. Solche Bedingungen nötigten zur Einführung von begrenzten Kriegsformen. Aus diesem Grund vermieden die Feldherren nach Möglichkeit die Schlacht. Kennzeichnend für das Kriegswesen im 18. Jahrhundert war die allgemeine Auffassung, daß der Krieg nur von Kombattanten geführt werden sollte, die Völker der beteiligten Staaten wurden im Idealfall nicht vom Krieg berührt.

Die Epoche der begrenzten Kriegsziele, Kriegsmittel und damit auch Kriegszerstörungen endete mit Napoleon (1769-1821). Ursache dafür war die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht am 23.08.1793. An die Stelle der kleinen, teuren Söldnerheere trat das billige Massenheer. Resultat davon: Der Krieg weitete sich zum Volkskrieg (totaler Krieg) aus. Nicht mehr nur Kombattanten waren fortan Ziele, gegen die militärische Mittel eingesetzt wurden, sondern auch die bisher weitgehendst verschonte Zivilbevölkerung. Der Einsatz gegen sie wurde notwendig, um den politischen Zweck, die Unterwerfung des Gegners, zu erreichen. Das Volk führte für den Staat Krieg, also mußte man das Volk demoralisieren (damit es den Krieg nicht fortzusetzen gewillt war) oder es physisch vernichten. Alle Kriegshemmnisse fielen nun fort, die Form des Volkskrieges (das Ausmaß an Zerstörung), wurde seit dieser Zeit ausschließlich von der Waffentechnik bestimmt. Je größer die Waffenwirkung, desto größer die Möglichkeit, das Kriegsziel gegen den Widerstand des Gegners zu erreichen.

Bis zum Beginn des Atomzeitalters konnte man die Folgen eines Krieges trotz der enorm angestiegenen Kosten immer noch kalkulieren, der Abschreckungsgrad war demnach relativ gering. Dies änderte sich schlagartig mit der Einführung von Atomwaffen. Danach waren die Kosten einer kriegerischen Auseinandersetzung unakzeptabel hoch, vorausgesetzt beide kriegführenden Parteien verfügten über Atomwaffen und konnten sie gegeneinander einsetzen, was spätestens ab 1949 (Erste Zündung einer Atombombe durch die UdSSR am 29.08.1949) der Fall war. Alle Nutzen/Kosten-Analysen schlossen nunmehr die Zuordnung von Gewalt (als Mittel) zur Politik (als Zweck) aus. Da der Atomkrieg die totale eigene Vernichtung bedeutete, konnte er nicht mehr im nationalen Interesse liegen. Dieser Zustand war völlig neu, der Frieden nun nicht mehr nur begrenztes Ziel der Politik, sondern Ziel der Politik überhaupt.

Nach wie vor allerdings wird dieser Frieden durch Androhung von Waffengewalt aufrechterhalten, das Abschreckungssystem behielt in den Augen der Menschen seine Gültigkeit. Souveränität und Machtpolitik wurden beibehalten. Machtpolitik verzichtet seither nur auf die direkte militärische Konfrontation der Atomwaffen besitzenden Gegner (Ost und West). Kriege verlegte man in Randgebiete - die mit der zunehmenden Verflechtung der Weltwirtschaft im Extremfall lebenswichtig sein konnten (Naher Osten, Erdöl) - oder ließ Kriege von Stellvertretern führen. Machtpolitik zog auch weiterhin, sogar mit noch wesentlich gesteigerter Effizienz - besonders bemerkbar in der sich verstärkenden Abhängigkeit der sog. Dritten Welt zu den Industriestaaten - alle Register der wirtschaftlichen Kriegführung. Man verzichtete auf eine von Grund auf neue Politik. Das Bestreben der Politik ging in die genau entgegengesetzte Richtung: sie wollte sich mit Hilfe von veränderten Einsatzdoktrinen und der Waffentechnik das Mittel Gewalt (als direkten Krieg gegeneinander) wieder verfügbar machen.

Abschreckung unterliegt fundamentalen Widersprüchen, die nachfolgend beschrieben werden. Sie macht damit das überleben der gesamten Menschheit zunehmend unwahrscheinlicher.

2. Widersprüche der Abschreckung

2.1 Verteidigung trotz Vernichtung


Der Hauptwiderspruch der Abschreckung liegt sicherlich darin begründet, daß Abschreckung den Einsatz von Nuklearwaffen androht, aber gleichzeitig ihren Einsatz unbedingt vermeiden muß, weil durch deren Anwendung gerade das vernichtet würde, was man zu verteidigen vorgibt. Territorium, materielle und kulturelle Güter, das Leben überhaupt, lassen sich mit Atomwaffen nicht verteidigen. Allenfalls kann man dem Gegner, wenn er angegriffen und uns vernichtet hat, aus reinen Rachegefühlen heraus das gleiche Schicksal zukommen lassen. Eine solche Handlungsweise ist aber völlig irrational, wenngleich man davon ausgehen kann, daß sie nicht unterbliebe.

Abschreckung gibt vor, nur rationalen Motiven zu unterliegen und dementsprechend angewandt zu werden. Auf den ersten Blick scheint dies auch so zu sein, frei nach dem Motto: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Genauer besehen ist die Abschreckung aber höchst unglaubwürdig und irrational, da man sich mit der Androhung des eigenen Selbstmordes nicht verteidigen kann. Verteidigung verliert völlig ihren Sinn, wenn die zu verteidigenden Güter dabei vernichtet werden. Nicht dieser Meinung sind offenbar die Autoren einer Studie für die CDU-Bundestagsabgeordneten Würzbach (jetzt Staatssekretär im für Verteidigung) und Berger. Sie monieren das Verhalten der Bundesbürger angesichts des oben genannten Widerspruchs folgendermaßen:

"Eine Grundproblematik der Politik atomarer Sicherheit besteht darin, daß die westliche Gesellschaft mit ihrem Streben nach individuellem Wohlstand und sozialer Sicherheit kaum mehr bereit ist, unter Umständen die Gesundheit und das Leben zu opfern, um diese Errungenschaften und die freie nationale Selbstbestimmung zu verteidigen." [3]

Durch solchen Zynismus glauben die Vertreter der Abschreckungsideologie diesen Widerspruch wettmachen zu können. Sind Tote etwa noch frei? Ist ein verwüstetes Land noch souverän? Wohlstand und soziale Sicherheit als Errungenschaften unserer Zivilisation gäbe es nach einem Atomkrieg nicht mehr. Nach einem solchen, auch wenn er "nur" auf Europa begrenzt bliebe, wären die europäischen Völker ausgelöscht. Europa bestünde nur noch als radioaktive Wüste, in der Leben auf der Ebene menschlicher Zivilisation für Jahrhunderte ausgeschlossen wäre.

2.2 Das Dilemma der Drohpolitik

Um mangelnder Glaubwürdigkeit zu entgehen, versucht man durch veränderte Einsatzdoktrinen und qualitativ verbesserten Nuklearwaffen den Einsatz für den Gegner wieder glaubhafter erscheinen zu lassen. Drohungen - und Abschreckung ist reine Drohpolitik - werden unglaubwürdig, wenn man sie nur ständig verbal wiederholt, den Gegner aber nicht von Zeit zu Zeit von der Echtheit derselben überzeugt. So wird bewußt eine Politik betrieben, die sozusagen eine Gratwanderung am Rande des nuklearen Abgrunds darstellt. Was ist glaubwürdiger als die Anwendung von Gewalt, um den Gegner einzuschüchtern? Jene Anwendung soll aber nicht zur großen Konfrontation führen, deshalb findet Krieg nur indirekt auf Nebenschauplätzen statt. Dem Kontrahenten wird beispielsweise durch entschlossenes Auftreten in der Dritten Welt Konfliktbereitschaft signalisiert. Es ist dabei überhaupt nicht ausgeschlossen, daß beide Großmächte irgendwann einmal in einen solchen regionalen Konflikt hineingezogen werden und dadurch der dritte Weltkrieg entfacht wird.

Abschreckung ist durch die Notwendigkeit einer bewußten Drohpolitik in zweierlei Widersprüche verwickelt:
  • Erstens erzeugt Drohpolitik im internationalen Zusammenleben Instabilitäten, die ja gerade durch Drohpolitik vermieden werden sollen.
  • Zweitens erhöht Drohpolitik die Bereitschaft zur Anwendung von Waffengewalt, was ebenfalls durch Abschreckung vermieden werden soll.
Die Geschichte lehrt, daß das Abschreckungssystem durch solche Widersprüche zeitweise zusammengebrochen ist. Man kann nicht davon ausgehen, allein aufgrund der Verfügbarkeit von Atomwaffen sei ein derartiger Zusammenbruch für alle Zeit ausgeschlossen. Besonders zu berücksichtigen ist, daß die Versuche, sich das Mittel Gewalt auch im Atomzeitalter wieder verfügbar zu machen, einen solchen Zusammenbruch in naher Zukunft sogar wahrscheinlich werden lassen.

2.3 Begrenzter Atomkrieg und Gewinn desselben

Eine der gefährlichsten Bestrebungen dabei ist, den Atomkrieg durch Begrenzbarkeit führen und möglichst gewinnen zu können. Das ist symptomatisch für das Abschreckungssystem, da es zum Funktionieren auf das Instrument Gewalt angewiesen ist und auch durch den Einsatz von Atomwaffen unter den oben genannten Vorgaben wieder zu funktionieren scheint. Die Äußerungen der Politiker, Nuklearwaffen seien politische Waffen, einziger Sinn und Zweck ihres Vorhandenseins sei die Vermeidung des Krieges, werden durch die konkreten Tatsachen ad absurdum geführt. Unbestreitbares Ziel ist, den Krieg wieder führen zu können. Qualitative Entwicklungen im Bereich der Nuklearwaffen, vor allem ihrer Transportmittel, weisen in diese Richtung. Wäre es so, wie die Politiker behaupten, bräuchte man keine qualitativ verbesserten Nuklearwaffenträger. Ihre Entwicklung auf den heutigen Stand setzt ein Motiv voraus, ohne ein solches hätte sich die Technik nicht in dem Ausmaß gewandelt, wie es tatsächlich der Fall gewesen ist. Das Motiv, wie wir später sehen werden, ist die Erringung der Erstschlagsfähigkeit.

Nimmt man an, der Gegner würde sich in einem Konflikt von der Vernunft leiten lassen und nicht den allumfassenden Atomkrieg auslösen, senkt dies die Hemmungen der eigenen Seite Atomwaffen einzusetzen. Man könnte glauben, durch einen beschränkten Einsatz zum Erfolg zu kommen, ohne dabei den eigenen Selbstmord auszulösen. Durch zunehmende Treffgenauigkeit und verkleinerter Sprengwirkung der Gefechtsköpfe lassen sich Atomwaffen effektiver einsetzen. Früher konnten Atomwaffen nur die gegnerischen Städte treffen, sie allein boten ein hinreichend großes Ziel. Interkontinentalraketen hatten eben eine solch schlechte Treffgenauigkeit, daß man kleinere Ziele, wie z.B. die gegnerischen Raketensilos, nicht bekämpfen konnte. So mußten also die Supermächte, ihnen blieb gar nichts anderes übrig, die jeweils andere Bevölkerung als Geisel für die eigenen Sicherheit nehmen. Das änderte sich zunehmend, besonders als der Rüstungswettlauf von Quantität auf Qualität umschaltete. Quantitativ waren die Arsenale Anfang der siebziger Jahre so ungeheuer angewachsen - man konnte die Erde bereits mehrfach vernichten -, daß ein weiteres quantitatives Aufrüsten völlig sinnlos wurde. Quantitativ weitergerüstet wird allerdings im Bereich der Gefechtsköpfe, obwohl dort schon mehr Gefechtsköpfe als Ziele dafür vorhanden sind. Sinnvoll demgegenüber, in den Augen der Politiker und Militärs, wurde die qualitative Weiterentwicklung. Inzwischen haben Atomwaffenträger eine unglaublich hohe Treffgenauigkeit erreicht. Die geplante MX-Rakete soll z.B. eine Treffgenauigkeit (CEP) von 100 Metern haben. Jetzige amerikanische Interkontinentalraketen haben einen CEP von 200 Metern. Immer noch ist die Sowjetunion in der Technik hinter den USA anzusiedeln, doch besteht kein Zweifel, daß ihre Anstrengungen inzwischen in die gleiche Richtung gehen.

Mit der erhöhten Treffgenauigkeit lassen sich nicht nur Städte bekämpfen, sondern jetzt auch militärische Anlagen, und zwar so, daß man einen militärischen Stützpunkt ausschaltet, die Stadt in dessen Nähe aber nicht von der Wirkung der Atomwaffe getroffen wird. Man nennt dies "chirurgische Einschnitte" in das Kontroll- und Kommunikationssystem des Gegners, in Befehlszentralen oder sonstige militärische Anlagen. Damit ist zweierlei erreicht:
  • Erstens: Man kann einen Nuklearkrieg dahingehend begrenzen, nur noch militärische Anlagen des Gegners zu bekämpfen. Man gibt ihm somit (vermeintlich) keinen Grund, den Atomkrieg zum Holocaust auszuweiten. Man rechnet mit der Vernunft des Gegenübers, z.B. nach einem Erstschlag auf seine Raketenabschußbasen noch rational zu handeln und trotz eines Angriffs auf sein Territorium, bei dem die Bevölkerung weitgehendst verschont geblieben wäre, nicht an einer weiteren Eskalation des Krieges interessiert zu sein, also ebenfalls nur begrenzt zu antworten.
  • Zweitens: Man überwindet die auf der eigenen Seite vorhandenen Hemmungen moralischer Natur. Da nicht die gegnerische Bevölkerung, sondern nur die gegnerischen Streitkräfte Ziel des Angriffs sind, muß man sich nicht mit den Schuldgefühlen eines Massenmörders quälen. Die Selbstabschreckung wird erheblich vermindert.
Beides macht den Krieg, auch den Atomkrieg, scheinbar wieder führbar, paßt also in Konzept der Abschreckung. Diese Tatsache darf nicht verleugnet werden. Die Schwelle zur Anwendung von Atomwaffen ist bereits gefährlich gesenkt und wird in Zukunft mit Sicherheit nicht erhöht werden, das Gegenteil ist weit wahrscheinlicher. Kennzeichnend für ein solches Denken (vom begrenzten und gewinnbaren Atomkrieg) ist die Präsidenten-Direktive 59 (PD-59) des damaligen US-Präsidenten Carter und ein Aufsatz in der amerikanischen Fachzeitschrift "Foreign Policy" unter dem Titel "Victory is possible" (Sieg ist möglich). Die PD-59 ist eine Anweisung des Präsidenten an die Streitkräfte der Vereinigten Staaten, ihre Atomwaffen in einem möglichen Krieg vorrangig gegen militärische Anlagen, Regierungs-, Kommunikations-, Kontroll- sowie Überwachungseinrichtungen der UdSSR einzusetzen. Der "Erfinder" der PD-59 ist der damalige Sicherheitsberater Carters, Brzezinski. Er erklärt in einem Interview nach Abwahl der Carter-Administration, daß die PD-59 vor allem eine "Kriegführungsstrategie" ist. Dies konnte er aber während seiner Amtszeit aus innenpolitischen Gründen nicht so darlegen. Brzezinski weiter:

"(...) die Direktive-59 bringt uns der Fähigkeit zum nuancierten und flexiblen Gegenschlag einen Schritt näher, das heißt, der Möglichkeit auf verschiedenen Ebenen eines Konflikts reagieren zu können." Auf Frage: "Wenn nötig, schließt das einen begrenzten Atomkrieg ein." [4]

Nahtlos daran an knüpft eine Studie des US-Verteidigungsministeriums. Sie wurde unter der Reagan-Regierung verfaßt und zeigt, daß selbst US-Präsident Reagan - trotz aller anderweitigen verbalen Äußerungen - an die Begrenzbarkeit, und damit Führbar- und Gewinnbarkeit eines Atomkrieges glaubt. In dieser Studie über die militärischen Anforderungen für die Jahre 1984 bis 1988 heißt es, die USA sollten ihre Streitkräfte so ausrüsten, daß sie bei einem nuklearen Schlagabtausch die Oberhand behalten und Moskau zu einem Kriegsende zu für die USA vorteilhaften Bedingungen zwingen können. Das Führen kontrollierter Gegenschläge über einen längeren Zeitraum hinweg wird angestrebt. In der Studie wird außerdem erneuert, daß die USA sich den Ersteinsatz von Atomwaffen vorbehalten, wenn im Falle des Krieges mit der Sowjetunion die Ziele nicht anders erreicht werden können. [5] Die in der Studie zum Ausdruck gekommene Überzeugung, daß der dritte Weltkrieg gewonnen werden könnte, findet ihre Wurzeln in dem angesprochenen Aufsatz "Victory is possible" (Sieg ist möglich), der sozusagen einen Wendepunkt im Denken der Strategen darstellt.

Darin heißt es:

"Die Vereinigten Staaten sollten planen, die Sowjetunion zu besiegen, und dies zu einem Preis, der eine Erholung der USA erlauben würde. Washington sollte Kriegsziele festlegen, die letztendlich die Zerstörung der politischen Macht der Sowjets und das Entstehen einer Nachkriegs-Weltordnung, die den westlichen Wertvorstellungen entspricht, in Betracht ziehen. Die furchterregendste Bedrohung für die Sowjetunion würde die Zerstörung oder eine schwerwiegende Beeinträchtigung ihres politischen Systems. Daher sollten die Vereinigten Staaten in der Lage sein, die Schlüsselfiguren der Führung, ihre Kommunikationsmittel und -wege und einige ihrer innenpolitischen Kontrollinstrumente zu zerstören. Die UdSSR mit ihrer mächtigen Überzentralisierung der Macht, zusammengefaßt in der riesigen Bürokratie in Moskau, dürfte höchst verwundbar einem solchen Angriff gegenüber sein. Die Sowjetunion würde möglicherweise aufhören zu funktionieren, wenn ihr Sicherheitsdienst, der KGB, ernsthaft in Mitleidenschaft gezogen würde. Wenn es gelänge, die Moskauer Bürokratie zu eliminieren, zu beschädigen oder zu isolieren, dann könnte die UdSSR sich in Anarchie auflösen." [6]

Bei einem Sieg der USA über die Sowjetunion halten die Autoren 20 Millionen Opfer in den Vereinigten Staaten für einen akzeptablen Preis, immerhin würden 200 Millionen Amerikaner überleben. Der US-Senator Paul Tsongas hält die Diskussion der Strategieexperten für "bemerkenswert amoralisch". In jenen Kreisen ist es seiner Meinung nach äußerst positiv, "nicht nur unmoralisch, sondern schlicht frei von jeder moralischen Verantwortung" zu sein. [7] Im Zusammenhang mit dem gewinnbaren Atomkrieg muß auch die Stationierung von Pershing-II-Raketen in der Bundesrepublik Deutschland ab Ende 1983 gesehen werden. Die Pershing-II kann Moskau erreichen, ist also für die geforderte Ausschaltung des Machtzentrums der UdSSR bestens geeignet. Da sie eine Flugzeit von ca. 7 Minuten benötigt und die Vorwarnzeit ungefähr 2 bis 3 Minuten beträgt, ist sie in hervorragender Weise als Erstschlagswaffe zu gebrauchen. Besonders berücksichtigen sollte man, daß bei solch extrem kurzen Vorwarnzeiten eine Reaktion des Angegriffenen fast unmöglich ist. Einer der beiden Autoren von "Victory is possible", Collin S. Gray, ist jetzt Mitglied des Allgemeinen Beratungsausschusses für die Abrüstungsbehörde und Berater des Außenministeriums der Reagan-Regierung (!). Wie ernst er die Abrüstung nimmt, zeigt folgendes Zitat:

"Bei dem NATO-Plan, 108 Pershing-II und 464 landgestützte Marschflugkörper zu stationieren, geht es nicht darum, ein Gleichgewicht oder Gegengewicht gegenüber der sowjetischen SS-20-Stationierung zu schaffen. (...) Die NATO braucht eine beträchtliche Anzahl dieser 572 Systeme (oder Entsprechendes), gleichgültig ob die sowjetische SS-20-Stationierung auf Null reduziert wird oder nicht." [8]

Wozu man dann die Mittelstreckenraketen seiner Meinung nach braucht, kann man in "Victory is possible" nachlesen. Was soll man jenen sagen, die angesichts der aufgeführten Zitate immer noch nicht glauben, daß maßgebliche Mitarbeiter Reagans, vielleicht sogar Reagan selbst, den gewinnbaren Atomkrieg planen? Sollten die neuen Mittelstreckenraketen der NATO in Europa stationiert werden, erhöht sich die Kriegsgefahr erheblich. Ein Krieg aus Irrtum, menschlichem Versagen oder übersteigerter Angst (in Krisenzeiten) könnte dann durchaus möglich werden. Es ist mehr als fraglich, ob sich ein Atomkrieg begrenzen läßt. Vielmehr liegt die Annahme nahe, daß ein Konflikt sehr schnell auf die höchste Stufe, den allgemeinen nuklearen Schlagabtausch eskalieren wird. Die Regierung eines getroffenen Staates würde sehr schnell den Befehl dazu geben. Unter einem ungewöhnlichen Zeitdruck, möglicherweise in einer Lage, in der der Überblick über das Geschehen ganz oder teilweise verlorengegangen ist; im Bewußtsein, daß schon Hunderttausende oder gar Millionen ihr Leben gelassen haben; mit der Angst, die Fähigkeit zum Gegenschlag in kürzester Zeit verlieren zu können, ist eine Begrenzung wohl kaum anzunehmen.

"Nach überschreiten der atomaren Schwelle würden bei den handelnden Personen vor allem der zuerst betroffenen Völker alle "Sicherungen" durchbrennen." [9]

Der Vergeltungsdruck, also primitive Rachegelüste, würden in einer solchen Situation jede Vernunft überlagern. Zum Aussehen einer "Nachkriegs-Weltordnung" äußerte sich einmal der Psychologe Erich Fromm:

"Für einen Psychologen ist es wahrscheinlicher, daß plötzliche Zerstörungen und der drohende langsame Tod für einen großen Teil der amerikanischen Bevölkerung oder des russischen Volkes oder große Teile der Welt derartige Panik, Verzweiflung und einen beispiellosen Schrecken verbreiten würden, die nur mit den Massenpsychosen des Mittelalters in der Folge des Schwarzen Todes verglichen werden könnten. (...) Die traumatischen Wirkungen einer solchen Katastrophe würden zu neuen Formen eines primitiven Barbarismus führen, zum Durchbruch der archaischsten Elemente, die immer noch Potentialitäten in jedem Menschen sind und die in den Terror-Systemen eines Hitler oder Stalin evident wurden. Nichts kann darüber hinwegtäuschen, daß Brutalität zur totalen Brutalisierung führt. Sollte es nur zu teilweisen Zerstörungen kommen, so könnte man doch eines sicher voraussagen: nach einem solchen Ereignis wird es nirgendwo mehr irgendeine Form von Demokratie geben, nur erbarmungslose Diktaturen, die von den Überlebenden in einer halb zerstörten Welt organisiert würden." [10]

Das hat wohl mit "westlichen Wertvorstellungen", der eine solche "Nachkriegs-Weltordnung" entsprechen soll, herzlich wenig zu tun. Im übrigen ist es eine schwerwiegende Täuschung, es gäbe nach einem Atomkrieg einen Sieger. Die Folgen eines auch nur begrenzten Atomkriegs lassen eine solche Feststellung durchaus zu.

Trotz aller Widersprüche und Unsicherheiten plant man den begrenzten und gewinnbaren Atomkrieg. Wenn nicht schnellstens dem Einführen von destabilisierenden Waffensystemen Einhalt geboten wird, kommt es unweigerlich zum Krieg. Carl Friedrich von Weizsäcker, einer der renommiertesten Wissenschaftler der Bundesrepublik, ist überzeugt davon, daß der dritte Weltkrieg dann stattfinden wird, wenn er gewonnen und geführt werden kann. [11] Ergänzend hierzu sei bemerkt, daß er wohl auch geführt werden würde, wenn eine Partei der irrigen Überzeugung wäre, sie könnte ihn führen und gewinnen. Erst im nachhinein, wenn es zu spät ist, würde dieser verhängnisvolle Irrtum erkannt werden.

2.4 Der Zwang zum Feind

Abschreckung braucht Feindbilder, ohne sie kommt Abschreckung nicht aus. Das Aufstellen von Streitkräften muß schließlich vor dem eigenen Volk gerechtfertigt werden. Was bietet sich da besser an, als ein äußerer Feind?

Würde kein Feind, also keine Bedrohung von außen vorhanden sein, müßte ja folgerichtig abgerüstet werden. Man kann demgegenüber daran zweifeln, daß die Staaten in Ost und West ein echtes Interesse an einer wie auch immer gearteten Abrüstung haben. Ein Grund dafür ist die Macht, die durch militärische Stärke erwächst. Das internationale Staatensystem erkennt Stärke nur aufgrund militärischer Stärke an. Kein Staat, wäre er auch wirtschaftlich noch so mächtig, sein Handeln noch so moralisch, könnte in diesem System eine bedeutende Rolle spielen. Allein militärische Macht verleiht einem Land die Attribute einer Großmacht. Das beste Beispiel hierfür ist die UdSSR. Sie ist wirtschaftlich schwach, ihren Anspruch, eine Weltmacht zu sein, kann sie ausschließlich auf ihr militärisches Potential stützen. demgegenüber ist Japan, obwohl wirtschaftlich ein Riese, militärisch relativ unbedeutend. Japan ist deshalb alles andere als eine Supermacht. Ein weiterer Grund dafür ist sicherlich die in jedem Land (im Westen) vorhandene Lobby der Rüstungsproduzenten. Im Osten übernimmt diese Rolle das Militär selbst, das dort eine eigene Klasse für sich ist. Beide, Rüstungsproduzenten (hier) und Militärs (dort), entziehen sich jeglicher demokratischen Kontrolle durch das Volk, beide beeinflussen in außerordentlichem Maße die Entscheidungsprozesse der Regierung. Es ist an der Zeit, diese undemokratischen Verhältnisse (wenigstens im Westen) zu ändern. Bestes Mittel hierzu ist die Vergesellschaftung aller Rüstungsfirmen.

Feindbilder durchdringen die gesamte Gesellschaft, der Gegner erscheint immer als Ungeheuer. Ihm werden Eigenschaften wie Intelligenz, taktische Raffinesse, Aggressivität und ein Denken in langen Zeiträumen zugesprochen. Alle seine Entscheidungen, mögen sie nun militärischer, bilateraler, multilateraler, diplomatischer, globaler oder regionaler Art sein, scheinen nur dem einen Ziel zu dienen: dem Angriff auf den eigenen Besitz und auf den Einfluß in der Welt. Der Konflikt findet also auf allen Ebenen statt, Schlachtfeld dabei ist die ganze Erde.

Die eigene Seite erscheint demgegenüber immer als die schwächere. Immer wieder wird die epochale und zivilisatorische Bedeutung des Konflikts betont. So ist jede Anstrengung, jedes Opfer, jeder Einsatz in sich legitim, es bedarf keiner individuellen Rechtfertigung. Dabei wird die jetzige Phase des Konflikts als die historisch entscheidende dramatisiert. Jetzt, und nur jetzt, werden die Weichen für den Ausgang gestellt; jetzt fällt die Entscheidung zwischen Freiheit und Tyrannei, Zivilisation oder Barbarei.

Beide Seiten begegnen sich mit äußerstem Mißtrauen, dabei wird für die eigene Seite immer der schlechteste Fall angenommen. Nicht entscheidend ist, was der Gegner will, welche Motive er haben könnte, sondern nur das, wozu er möglicherweise fähig ist. Daraus folgt, daß ernstgemeinte Abrüstungs- oder auch Rüstungskontrollvorschläge der einen Seite bei der anderen als fadenscheinige Propaganda und Trick abgetan werden. Daß er es ernst meinen könnte, wird ihm nicht abgenommen. Das Feindbild hält jeden der beiden Kontrahenten in der einmal fixierten Rolle fest und entläßt ihn auch dann nicht daraus, wenn er tatsächlich ehrliche Absichten haben sollte.

Der Feind kämpft, bei allem was er tut, immer für das Böse, die eigenen Handlungen sind dabei natürlich völlig uneigennützig und gut. Es kann vorkommen, daß beide Großmächte genau die gleiche Handlung begehen, z.B. eine militärische Invasion oder die Unterstützung brutaler Diktaturen, das eigene Handeln aber als im Namen der Menschlichkeit, Freiheit, Gerechtigkeit usw. bezeichnet wird, während der andere selbstverständlich im Namen der Unmenschlichkeit, Unfreiheit und Ungerechtigkeit usw. handelt. Feindbilder zwängen die Urteilsfähigkeit beider Seiten in Schablonen, eine objektive Bewertung der Lage oder des Handelns ist kaum mehr möglich. Die Ununterscheidbarkeit der Sprache ist ein Beweis für die Ununterscheidbarkeit der Feindbilder.

"Der dem Sowjetbolschewismus (Imperialismus) wesenseigene Drang nach Expansion und Krieg, nach Umsturz (Reaktion) auf der ganzen Linie ist die tiefste Ursache für den Aufbau starker westlicher (sozialistischer) Streitkräfte."

Dieses Zitat könnte von einem beliebigen westdeutschen Politiker oder Militärjournalisten stammen, tatsächlich stammt es von DDR-General Fleissner, zu lesen ist es mit den in Klammern stehenden Worten. [12]

Abschreckung muß lückenlos sein, sonst erfüllt sie nicht ihren Zweck, aus diesem Grund wird der Gegner auf allen möglichen Ebenen abgeschreckt. Würde auf einer Ebene eine Lücke vorhanden sein und der Gegner nicht - um seinen Vorteil auszunutzen - in diese Lücke stoßen, bräche das ganze Feindbild zusammen. Diese lückenlose Abschreckung verhindert aber, daß die Beteiligten gegenseitiges Vertrauen entwickeln können. Auf keiner Ebene besteht die Möglichkeit seinen guten Willen zu zeigen. Man weiß letztendlich nicht, ob der Gegner aufgrund der Abschreckung oder aufgrund seines guten Willens eine bestimmte Handlung unterläßt.

Beide Bündnisse haben seit ihrem Bestehen so gehandelt, beide entwickelten Feindbilder, um ihre Rüstungsanstrengungen rechtfertigen zu können. Dabei mußten sie ihren jeweiligen Gegner besonders stark entmenschlicht darstellen.

"Die Feindfixierung gehört zur Abschreckung wesentlich hinzu. (...) Der konkrete Feind mag austauschbar sein, die Feindfixierung und die Verteufelung des Feindes sind es nicht. (...) Absolute Vernichtungsmittel erfordern den absoluten Feind, wenn sie nicht absolut unmenschlich sein sollen. (...) Die Androhung einer Vergeltung in den Größenordnungen gegenwärtiger strategischer Kalküle setzt die Kriminalisierung des Gegners voraus, soll die Abschreckungspraxis nicht selbst als kriminell erscheinen." [13]

Die Bereitschaft zum Äußersten, zum Massenmord, zur Auslöschung ganzer Völker oder der Menschheit, kann nur durch eine die Hemmungen herabsetzende Entmenschlichung des Gegners erreicht werden. Beispiel hierfür ist die Propaganda der Nazis im III. Reich. Juden wurden mit Ratten verglichen, die slawischen Völker als Untermenschen bezeichnet. Ohne eine solche Herabsetzung des Gegners sind Verbrechen in diesem Ausmaß nahezu unmöglich. Wenn auch heute Vorurteile nicht mehr offen von den Regierungen verbreitet werden, in subtiler Weise geschieht das nach wie vor, besteht immer noch ein zumindest im Unterbewußtsein vorhandenes Vorurteil. Von der westlichen Bevölkerung werden die Russen immer noch als primitiv, gewalttätig und hinterlistig eingestuft.

Die Feindfixierung geht sogar so weit, daß innenpolitische Gegner, die einem solchen Denken nicht oder nur teilweise unterliegen, als vom Feind beeinflußt hingestellt werden. Dadurch sind wüste Entgleisungen möglich, z.B. die Verunglimpfung der SPD als "Moskau-Fraktion" durch die Unionsparteien, oder die angebliche Unterwanderung der deutschen Friedensbewegung durch Kommunisten. Argumente werden von vornherein als nicht richtig bezeichnet, weil sie ja von Gegnern der vorherrschenden Doktrin vertreten werden. Kritiker des Staates werden als Staatsfeinde diffamiert, in die Nähe des Terrorismus gerückt, wobei der äußere Feind natürlich die Ursache des internationalen Terrorismus ist. Wer die gewünschte Friedhofsruhe stört, fällt auf. Wer auffällt, ist nicht so wie die Norm es verlangt, also Außenseiter, und Außenseiter sind Feinde. Es ist schon fast so, daß man nach einem kritischen Satz sogleich ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung ablegen muß, um zu dokumentieren: ich gehöre nicht zu denen da drüben. Laut zum Ausdruck gebrachte Kritik bringt Ärger, aus diesem Grund sind viele ganz schön leise.

Feindbilder wirken also auch nach innen, und zwar disziplinierend, herrschaftserhaltend. Jeder Zweifler an der herkömmlichen Verteidigungsform wird als Utopist (nützlicher Idiot) hingestellt, der nur den Interessen des Feindes nützt. Dabei stellt sich natürlich die Frage, wer denn früher die "Realisten" oder die "Utopisten" waren. Vor dem I. und II. Weltkrieg wurden all jene als Realisten bezeichnet, die dafür eintraten, daß das Deutsche Reich möglichst kräftig aufrüstete. Und wohin hat das geführt? In beiden Fällen zum Krieg!

"Eigentümlich ist, daß wir im Rückblick die Wirklichkeit ganz anders sehen. Daß wir im Rückblick immer merken, daß die Realisten immer andere waren als die, die glaubten sie seien es." (...) Aber: "Immer noch sind die, die möglichst viel Rüstung wollen, die Realisten, immer so lange, bis es schief gegangen ist." [14]

Feindbilder, nach innen und außen, sind gefährlich. Feindbilder wecken Angst und Aggressivität. Feindbilder sind realitätsfremd. Reagiert der Gegner dann unter Einwirkung des ihm eigenen Feindbildes aggressiv, gilt dies als Bestätigung des eigenen Feindbildes - ein Teufelskreis. Im Innern behindern Feindbilder das Funktionieren der Demokratie. Die Menschheit kann es sich nicht erlauben, weiterhin Feindbilder aufrechtzuerhalten. Wer nicht versucht, den anderen besser zu verstehen, sich einmal in dessen Lage zu versetzen, der braucht nicht erstaunt zu sein, wenn der Krieg, den angeblich keiner will, plötzlich ausbricht. Dem Feindbild entsprechend waren es dann bestimmt wieder die anderen.

2.5 Abschreckung und Rüstungswettlauf

Das Abschreckungssystem fördert den Rüstungswettlauf. Da sich beide Seiten mit abgrundtiefem Mißtrauen gegenüberstehen und in einer möglichen Auseinandersetzung den für die eigene Seite schlechtesten Fall (worst-case) annehmen, fühlen sie ihre Sicherheit nur dann gewährleistet, wenn mindestens ein Gleichgewicht der Kräfte (Fähigkeiten) erreicht ist. Der Gegner wird danach beurteilt, was er unter gewissen Umständen der eigenen Seite an Schaden zufügen könnte. Ob er es will oder letztendlich dazu imstande ist, wird nicht gefragt. Dabei werden in Planspielen die Umstände für die eigene Seite am ungünstigsten dargestellt. Die angenommenen Umstände lassen alle Handlungen des Gegners gelingen, während die eigenen Abwehr- bzw. Vergeltungsmaßnahmen allen nur denkbaren Beeinträchtigungen unterliegen. Dieses Denken nennt man "worst-case-Denken".

Die darauf zurückzuführende Suche nach dem Gleichgewicht ist für den Rüstungswettlauf verantwortlich. Zu keiner Zeit werden beide Seiten jemals einen Zustand gleichzeitig als Gleichgewicht anerkennen. Der Grund hierfür ist leicht zu benennen: Gleichgewicht wird von beiden Seiten unterschiedlich definiert. Ein Beispiel: Gleichgewicht wird oft mit rein numerischen Gegenüberstellungen von Waffensystemen ausgedrückt. Panzer werden gegen Panzer, Kampfflugzeuge gegen Kampfflugzeuge, und Kriegsschiffe gegen Kriegsschiffe aufgerechnet. Für unterlegen hält sich, wer weniger aufweisen kann als der andere. Die Qualitätsmerkmale der Waffensysteme sind aber vielfach zu unterschiedlich, als daß man sie direkt gegeneinander aufrechnen kann. Qualitätsmerkmale sind u.a.:
  • Überlebensfähigkeit
  • Flexibilität, d.h. vielseitige Verwendung bzw. Einsatzfähigkeit
  • Allwetterfähigkeit
  • Zuladung bei Flugzeugen
  • Wurflast
  • Reichweite
  • Treffgenauigkeit und vieles andere mehr.
Bei keinem Waffensystem treffen genau die gleichen Qualitätsmerkmale aufeinander, so ist das Aufrechnen von Waffensystemen äußerst schwierig. Die Vielzahl der Kriterien erschwert das Einschätzen und Festlegen des Gleichgewichtszustands. Eine bloß zahlenmäßige Gegenüberstellung jedenfalls kann kein Gleich- oder Ungleichgewicht bewerten, deshalb sind die fast ausschließlich zahlenmäßigen Gegenüberstellungen der Rüstungspotentiale in den Medien irreführend und sinnlos. Zusätzliche Schwierigkeiten: Die unterschiedliche geographische Beschaffenheit und Lage der Bündnisgebiete, voneinander abweichende Verteidigungsdoktrinen und demzufolge verschiedenartige Anforderungen an die Ausrüstung der Streitkräfte.

"Es gehört wenig Phantasie zu der Einsicht, daß es niemals eine Einigung darüber geben kann, was Gleichgewicht im konkreten Falle sei, und dies um so weniger, als beide Seiten gerne von "worst-case-Studien" ausgehen, also ihre Sicherheit nur dann für gegeben erachten, wenn sie auch im schlimmsten aller denkbaren Fälle noch verteidigungsfähig bleiben." [15]

3. Frieden durch Abschreckung?

Der Wert der Militärausgaben betrug 1981 600 bis 650 Milliarden US-Dollar. [16] In einer Welt, in der Millionen Menschen jährlich verhungern, in der weitere -zig Millionen in völliger Armut dahinvegetieren, in der die notwendigsten Gesundheitsmaßnahmen für Menschen in der Dritten Welt nicht finanzierbar sind, sind solch hohe Rüstungsausgaben moralisch einfach nicht zu vertreten. (Zum Vergleich: Die weltweit gewährte Entwicklungshilfe beträgt nur ca. 35 Milliarden US-Dollar) Hinzu kommt, daß die Welt am Rande einer ökologischen Katastrophe steht und die Energiereserven der Erde vielleicht schon in fünfzig Jahren völlig aufgebraucht sein werden. Die Regierungen haben demgegenüber nichts besseres zu tun, als gewaltige finanzielle Mittel und riesige Ressourcen zu verschwenden, die den Untergang der Menschheit eher noch beschleunigen helfen, statt die Mittel sinnvoll für Entwicklungshilfe, Umweltschutz, Forschung, Bildung usw. auszugeben.

Eines kann man angesichts dieser Tatsachen sagen: Abschreckung allein ist schon gefährlich genug, aber ihre materiellen Kosten verhindern die Lösung von lebensbedrohenden Problemen der Menschheit. Sollte die Menschheit nicht in einem Atomkrieg untergehen, wird vielleicht gerade der in Rüstung investierte Aufwand letztendlich den Ausschlag dafür geben, daß Probleme ungelöst bleiben und die Menschheit eben an diesen zugrunde geht. Nichts faßt diesen Zustand besser in einem Satz zusammen, wie das bekannte Zitat von Helmut Gollwitzer: "Entweder wir schaffen die Rüstung ab, oder die Rüstung schafft uns ab."

Abschreckung hat in der Vergangenheit Kriege nicht verhindert. Sie kann den Frieden auf Dauer nicht garantieren, weil Abschreckung in gewisser Weise den Krieg immer vorwegnimmt. Abschreckungspolitik ist die systematische Vorbereitung auf den Krieg. Abschreckungspolitik, wie sie heute praktiziert wird, strebt danach, Kriege auch mit Nuklearwaffen führen zu können. Das führt in der Konsequenz unweigerlich zum Krieg, da alle auf dieses Ziel gerichteten Maßnahmen destabilisierend wirken. Irgendwann - nach Meinung von Fachleuten noch in diesem Jahrhundert - ist das herkömmliche System der gegenseitigen Vernichtung so instabil geworden, daß entweder eine Partei glaubt, die Fähigkeit zum Sieg zu besitzen (womöglich in der Realität auch besitzt), und der Anreiz - besonders in politisch angespannten Zeiten - die momentane Überlegenheit auszunutzen, größer sein könnte als alle Hemmungen. Oder die scheinbar unterlegene Partei ist der Ansicht, daß ihre Unterlegenheit in der Zukunft noch größer sein wird, und ihre Chancen, wenn sie jetzt losschlägt, größer sind als nachher.

Leider sind die Äußerungen führender Politiker, Militärs und Strategen nicht dazu angetan, die Lage zu entspannen. Im Gegenteil, viele sogenannte "Falken" reden offen von der Möglichkeit des Atomkrieges. Solche verbalen Kraftakte - hinzu kommt eine dementsprechend forcierte Aufrüstung - beunruhigen ja schon die eigene Bevölkerung, wie man an der weltweiten Entstehung einer starken Friedensbewegung ablesen kann. Wie beunruhigend ein solches Verhalten auf die Führer der Gegenseite wirkt, die alles gemäß ihres Feindbildes für wesentlich bedrohlicher halten als man selbst, kann man nur erahnen. Positiven Frieden wird es nur jenseits von Abschreckung geben.

Wenn Abschreckung auch nur den negativen Frieden, also die Abwesenheit von direkter Gewalt, sichern könnte, wäre wenigstens die akute Gefahr eines Atomkrieges gebannt. Zu einer stabilen Abschreckung müssen m.E. folgende Voraussetzungen erfüllt werden:
  • Die Nichtweitergabe von Wissen und technischen Anlagen (z.B. Atomkraftwerke) an Drittländer, das zum Bau von Atomwaffen dienen könnte.
  • Den Abbau aller Nuklearwaffen unterhalb der strategischen Ebene. Das hebt die Schwelle zur Anwendung von Atomwaffen wesentlich an.
  • Den Verzicht auf die Entwicklung, den Bau und die Einführung von destabilisierenden Waffensystemen.
  • Die Festlegung einer quantitativ und qualitativ etwa gleichwertigen Nuklearstreitmacht der Großmächte.
  • Die Offenlegung aller militärischen Informationen.
Die gegenseitig gesicherte Vernichtung (Wer als erster schießt, stirbt als zweiter) muß unbedingt gewährleistet werden, solange man nicht die Abschreckung überwindet und alle Atomwaffen abschafft. Nur so könnte die Abschreckung auf lange Sicht stabil bleiben. Der Weg dorthin mag schwierig sein, aber der zur Zeit eingeschlagene führt irgendwann zum Atomkrieg.

Seit die Menschheit Atomwaffen besitzt, hat sie versucht, durch Ausbau ihrer Nuklearstreitmacht Sicherheit zu erlangen. Das Ergebnis ist erschreckend. Konnte 1945 kein Land das andere total vernichten, ist diese Gefahr heute durchaus gegeben. Brauchte man in den fünfziger Jahren noch Stunden, um einen Angriff auszuführen, könnten heute die Supermächte die Erde in einer halben Stunde völlig verwüsten. Morgen braucht man dazu vielleicht nur noch wenige Minuten. Eine Befragung von Politikern oder der Bevölkerung käme nur zu einem Ergebnis: Das Sicherheitsgefühl ist trotz unvorstellbar großer Anhäufung von Vernichtungskraft, über das die Kontrahenten inzwischen verfügen, nicht größer geworden. Im Gegenteil, viele fühlen sich heute unsicherer als vor 30 Jahren, und das obwohl die stetige Aufrüstung immer mit der erhöhten Sicherheit, die sie angeblich gewährleisten soll, begründet wurde. Die Risiken einer Abrüstung oder wenigstens Einfrierung der Arsenale auf den heutigen Stand mögen groß sein, sie sind jedoch wesentlich geringer als das konkrete Risiko des nuklearen Holocausts. Endziel bei allem sollte trotzdem sein: Die Abschaffung aller Atomwaffen. Ich bin jedoch skeptisch, ob die Menschheit jemals den Fluch der Atomwaffe wieder los wird. Die Erfindung ist gemacht, und sollte man auch alle Atomwaffen abschaffen, es bliebe dennoch die Furcht, irgend jemand könnte das nicht aus der Welt zu schaffende Wissen über den Bau von Atomwaffen nutzen und welche bauen. Meiner Meinung nach wird die Menschheit für immer mit der Existenz von Atomwaffen leben müssen. Das Problem besteht darin, wie sie heute und in der Zukunft mit diesem Problem fertig wird. Die jetzige Form der Kriegsverhütungspolitik ist m.E. der falsche Lösungsansatz.

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[1] Anton-Andreas Guha, Der Tod in der Grauzone, Frankfurt 1980
[2] vgl. hierzu: Johan Galtung, Strukturelle Gewalt, Reinbek 1975
[3] Hubertus Hoffmann/Rolf Steinrücke, Rüstung und Abrüstung im euronuklearen Bereich, Washington/Bonn 1979
[4] Der Spiegel vom 13.04.1981
[5] Mannheimer Morgen vom 18.01.1983
[6] Collin Gray/Keith Payne, Foreign Policy, Nr.39, 1980
[7] E. Kennedy/M. Hatfield, Stoppt die Atomrüstung, Reinbek 1982
[8] Collin Gray, Air-Force-Magazine, Nr.3, 1982
[9] Anton-Andreas Guha, Der Tod in der Grauzone, Frankfurt 1980
[10] Erich Fromm, New York 1961, zitiert nach Dieter Senghaas, Abschreckung und Frieden, Frankfurt 1981 (3. Auflage)
[11] Carl Friedrich von Weizsäcker, Wege in der Gefahr, München 1976
[12] Anton-Andreas Guha, Der Tod in der Grauzone, Frankfurt 1980
[13] Dieter Senghaas, Abschreckung und Frieden, Frankfurt 1981 (3. Auflage)
[14] Erhard Eppler, Rede auf dem Juso-Bundeskongreß 1981 in Lahnstein/Pfalz.
[15] Erhard Eppler, Wege aus der Gefahr, Reinbek 1981
[16] SIPRI-Jahrbuch 1982/1983, Reinbek 1983