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12. April 1997, von Michael Schöfer
Wer Armut sät...


Oft werden Entscheidungen von der Nachwelt völlig anders beurteilt als zu dem Zeitpunkt, da sie getroffen wurden. Im nachhinein stellt sich nämlich heraus, daß sie in Wahrheit unverantwortlich und gefährlich waren. In solchen Fällen lautet dann die naheliegende Frage, wie man in jenen Tagen überhaupt so dumm sein konnte bzw. warum man die bedrohliche Situation trotz eindeutiger Hinweise nicht erkannt hat. Von Marie Antoinette (1755 - 1793) wird beispielsweise berichtet, sie habe, darauf angesprochen, daß die Armen kein Brot hätten und deshalb hungern müßten, ihnen kurzerhand empfohlen Kuchen zu essen. Zynismus wird zuweilen bestraft, damals endete das Ganze - wie wir wissen - auf dem Schafott. Obgleich sich die politischen Verhältnisse seitdem grundlegend geändert haben, die Urheber derartiger Fehlleistungen der Enthauptung also mit hoher Wahrscheinlichkeit entgehen dürften, ist uns eines erhalten geblieben: die Unvernunft der Regierenden.

Man soll Analogien zwar nicht überstrapazieren, aber was uns gegenwärtig in ähnlicher Weise bedroht, ist die brutale Aufkündigung des sozialen Konsens. Momentan stellt das politische Establishment unverhohlen sämtliche sozialen Errungenschaften zur Disposition, folglich kann hierzulande zweifelsfrei von einem "Krieg gegen die Armen" gesprochen werden. Die moderne Form des Zynismus lautet heute, man müsse die Sozialhilfe kürzen, damit die Leistungsempfänger endlich den Anreiz haben zu arbeiten. Und das bei 4,5 Millionen Arbeitslosen! Sprache ist verräterisch, aus diesem Grund läßt die Diffamierung der sozialen Absicherung als "Zwangseinrichtung" (Wolfgang Schäuble, CDU) und die Charakterisierung von Sozialabbau als Befreiungsschlag von den "Fesseln der Planwirtschaft" (Dieter Thomae, FDP) wahrlich nichts Gutes erwarten. Ich frage mich: Sind die da oben völlig ausgerastet, sind dort wirklich alle Sicherungen durchgeknallt?

Doch den Regierenden sind die Sorgen und Nöte der Menschen offensichtlich völlig gleichgültig, vorzugsweise kümmert man sich um das Wohlergehen des "Marktes" und ähnlich abstrakter Gebilde. In diesem Kontext taucht das Individuum ausschließlich als Kostenfaktor oder Marktteilnehmer auf (ich kaufe, also bin ich). Störungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts beseitigt man deshalb mit "Marktbereinigungen" - die Betroffenen erfahren das als Arbeitslosigkeit und Sozialabbau. Im Denken der Markt- und Freihandelsideologen sind letztere jedoch nur eine statistische Größe, Schicksale interessieren nicht. Die Bundesrepublik mutiert zur Deutschland AG: politische Mechanismen aus dem Lehrbuch für Betriebswirtschaft und als soziales Gewissen die Richtlinien des IWF (also keine).

Das fundamentalistische Vokabular besteht dabei ausnahmslos aus Worthülsen (Deregulierung, Privatisierung etc.). Man wiederholt sie kontinuierlich, wie wenn schon allein damit ihre Gültigkeit zu beweisen wäre. Nach dem Sinn und Zweck (ist der Mensch für die Wirtschaft oder die Wirtschaft für den Menschen da?) wird bezeichnenderweise nicht gefragt. Gegenüber gesellschaftlichen Zusammenhängen jenseits des Ökonomischen sind Marktradikale absolut blind. Drei elementare Säulen des Sozialstaats (Renten-, Kranken-, Arbeitslosenversicherung) sind durch diese krude Politik bereits beträchtlich ins Wanken geraten, die Krise äußert sich u.a. in berechtigten Zweifeln an deren langfristiger Stabilität. Ob etwa die heute 40jährigen überhaupt noch auf eine zur Abwendung von Altersarmut ausreichend hohe Rente hoffen dürfen, ist in der Tat äußerst fraglich. Die Altersversorgung, betont Bundesarbeitsminister Blüm immer wieder, sei sicher. Gewiß, zumindest er wird nicht darben. Aber gilt das auch für die anderen? Aus heutiger Sicht kaum.

Die Torheit der Regierenden ist immens und wird sich vermutlich bitter rächen, denn der Aufkündigung des sozialen Konsens folgt unweigerlich die Aufkündigung des demokratischen. Die Wahlerfolge von Haider (Österreich) und Le Pen (Frankreich) markieren die Wegstrecke. Instabile oder autoritäre Verhältnisse sind, sofern die Politik keinen grundlegenden Kurswechsel durchführt, nicht nur wahrscheinlich, sondern geradezu vorprogrammiert. Spätestens seit Johan Galtung (1975) ist der Begriff "strukturelle Gewalt" (als Synonym für soziale Ungerechtigkeit) Allgemeingut geworden. Es ist ein schwerwiegender Trugschluß, die Opfer würden dergleichen tatenlos hinnehmen. Wer Armut sät, wird Widerstand ernten.

Die Annahme, das Volk werde sich mit der zunehmenden Verelendung widerstandslos abfinden, ist auch durch keinerlei geschichtliche Erfahrung begründet. Im Gegenteil: Unsoziale Gesellschaftsordnungen können auf Dauer nicht fortbestehen, weil Menschen letztlich ein Interesse daran haben müssen, die herrschenden Verhältnisse aufrecht zu erhalten. Oder wie Max Weber formulierte: Es muß für den einzelnen "zweckrational" sein, das System zu unterstützen. Die fatalistische Duldung des gegenwärtigen Trends ist jedoch alles andere als zweckrational, sie wäre vielmehr außerordentlich töricht. Das Überleben der Demokratie ist mithin äußerst gefährdet. Ich bin sicher, die Nachwelt wird das ähnlich beurteilen. Warum man den gesellschaftlichen Zusammenhalt leichtfertig der grenzenlosen Habgier einer kleinen Minderheit geopfert hat, wird später kaum noch nachvollziehbar sein. Und künftige Generationen werden dann genauso verständnislos auf unsere Zeit zurückblicken, wie wir heutzutage den Irrtümern von damals (siehe oben) gegenüberstehen.