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18. Mai 1997, von Michael Schöfer
Der Ast, auf dem ich sitz'

Das aktuelle Zauberwort in den deutschen Konzernzentralen heißt unbestreitbar "Shareholder value", was soviel bedeutet wie "im Interesse der Anteilseigner". Kurz gesagt versteht man darunter die Ausrichtung der Firmenpolitik auf einen einzigen Zweck: Maximierung der Aktionärsgewinne. Bei der Umsetzung dieses Konzepts werden allerdings schon mal en passant 20.000 Beschäftigte entlassen (pardon: freigesetzt), der Haß auf die Herren in den Vorstandsetagen - Damen findet man hier leider äußerst selten - ist aus diesem Grund beträchtlich. Als sich etwa der Krupp-Konzern mit Hilfe der Banken den Konkurrent Thyssen durch eine "feindliche Übernahme" einverleiben wollte, hätten die Stahlwerker den Vorstandsvorsitzenden, Gerhard Cromme, sogar fast gelyncht. Ist man dort wirklich allein dem brutalen Manchester-Kapitalismus verpflichtet, oder werden die Firmen zu dieser gewiß langfristig auch für sie verheerenden Geschäftspolitik geradezu gezwungen? Es soll im folgenden darum gehen, die Motive der Handelnden eines winzigen, gleichwohl bedeutenden Aspekts im komplexen Wirkungsgefüge der Ökonomie besser zu verstehen, nicht sie zu rechtfertigen.

Beispiel Siemens: Der Siemens-Konzern hat in der Bundesrepublik seit dem Geschäftsjahr 1993/1994 seine Belegschaft um fast 23.000 Mitarbeiter verringert, bis Ende 1997 sollen weitere 6.000 auf der Abschußliste stehen. Andererseits eilt Siemens von Rekordgewinn zu Rekordgewinn, im abgelaufenen Geschäftsjahr waren es beachtliche 2,5 Mrd. Mark. [1] Für die meisten ist das zu Recht völlig unverständlich, bei genauerem Hinsehen wird jedoch deutlich warum. Die Eigentümerstruktur von Siemens hat sich nämlich in der vergangenen Dekade dramatisch verändert. Hielten die Investmentgesellschaften vor zehn Jahren lediglich 10 Prozent des Gesamtkapitals, waren es 1993 bereits nahezu 25 Prozent, im vergangenen Jahr sogar fast ein Drittel. Zusammen mit Banken und Versicherungen besitzen sie nun 45 Prozent. Kein Vorstand kann es sich erlauben, solcherlei geballte Interessenmacht zu übersehen - es sei denn, um den Preis seiner Abwahl.

Aber für diesen Aktionärskreis zählt nur eines: der größtmögliche Ertrag. Folglich wird auf Biegen und Brechen "optimiert", ein Effizienzprogramm jagt das andere. Auf der Strecke bleiben die Arbeitnehmer. Doch letztere sind, so paradox dies auch auf den ersten Blick erscheinen mag, hierfür durchaus mitverantwortlich. Denn in puncto Geldanlage setzen gerade Kleinanleger - neben Lebensversicherungen - vermehrt auf sogenannte Investmentfonds, in Deutschland waren es im ersten Quartal 1997 insgesamt 13,9 Mrd. Mark. Aktienfonds (Anlage in Dividendenwerte) konnten dabei mit 8,9 Mrd. sogar den Löwenanteil einstreichen. Alles in allem verwaltet die Investmentbranche momentan ein Anlagekapital von 452 Mrd. DM. [2]

Zumindest die Kleinanleger verkennen also völlig, wie heftig sie mit ihrer privaten Profitmaximierungsstrategie dazu beitragen, den Ast abzusägen, auf dem sie als Arbeitnehmer sitzen. So entfalten Handlungsmuster, die - isoliert, d.h. subjektiv betrachtet - durchaus als rational zu bezeichnen sind, eine objektiv schädliche Wirkung. Shareholder value ist demnach kein böser Fluch, der wie ein Blitz aus heiterem Himmel auf uns niedergekommen ist, sondern hat einen ökonomisch nachvollziehbaren Hintergrund. Und letztlich es hilft nichts, den gegenwärtigen Trend zwar lauthals zu beklagen, aber in der Konsequenz alles beim alten zu lassen. Vielmehr sollte man darüber nachdenken, wie man die Arbeitnehmer und deren Interessen stärker in die Entscheidungsfindung der Konzernspitzen einbeziehen kann. Selbst wenn das in der momentanen Lage irreal erscheint, neue Mitbestimmungs- und Beteiligungsmodelle sind notwendiger denn je.

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[1] Frankfurter Rundschau v. 12.02.1997
[2] Frankfurter Rundschau v. 26.04.1997