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| Impressum 29. September 1998, von Michael Schöfer Crisis. What crisis? Früher haben uns die hiesigen Standortpolitiker ständig empfohlen, so zu werden wie die Japaner. "Das leise Lächeln des Siegers", lautete beispielsweise ein Buch über das angeblich nachahmenswerte Nippon. Deutschland sei eben satt, verkrustet und reformunfähig. Schlank und flexibel wie die "Preußen Asiens" sollten wir sein. Angesichts der Wirtschaftskrise will man davon aber plötzlich nichts mehr wissen. Japan ist schwer angeschlagen: das Sozialprodukt sinkt, die Arbeitslosigkeit steigt, Banken stehen vor der Pleite, enorme Einbrüche an der Börse korrespondieren mit einer dramatischen Schwäche des Yen. Ganz so schlank (sprich: mager) war das nie gemeint, heißt es nun. Mit einem Mal entdeckt man, wie reformunfähig und unflexibel die Asiaten sind. Auch die allseits präsente Korruption wird neuerdings voller Abscheu angeprangert. Der tiefere Grund: Das asiatische Jahrhundert ist bereits vorüber, bevor es überhaupt richtig begonnen hat. Die neoliberalen "Experten" haben das natürlich schon immer gewußt. Nur haben sie leider vergessen, es uns in aller Deutlichkeit zu sagen. Doch man hat schnell Ersatz gefunden. Neuerdings empfehlen sie, so zu werden wie die Amerikaner. Die würden eh alles besser machen. Ist ja an den niedrigen Arbeitslosenzahlen deutlich abzulesen (die Ähnlichkeit mit früheren Argumenten in bezug auf Japan ist rein zufällig). Die ökonomische Krise belehrt uns vermutlich rasch eines Besseren, denn selbst in den seit Jahren prosperierenden USA beginnt man die Verwerfungen des internationalen Finanzmarktes zu spüren. Schon müssen länderübergreifende Rettungsaktionen organisiert werden, weil beträchtliche Verluste angefallen sind. Beim angeschlagenen US-Fonds "Long-Term Capital Management" (LTCM) hat man Presseberichten zufolge mit einem Eigenkapital von 2,2 Mrd. Dollar das ganz große Rad drehen wollen: Es wurden Finanzkontrakte im Gesamtwert von 1250 Mrd. Dollar (ca. 15 Prozent des US-Sozialprodukts) abgeschlossen. Die Spekulanten haben dabei leider aufs falsche Pferd, und etliche Milliarden in den Sand gesetzt. Wir werden sehen, wie das internationale Finanzsystem diesen Kollaps übersteht. Wenn weitere Leichen dieser Größenordnung im Keller liegen, dann gute Nacht. Die "Experten" hingegen beruhigen uns. Wer einfältig genug ist, mag es glauben. Unsere Standortpolitiker werden danach, wenn es schief gegangen ist, zweifellos betreten schweigen. Gegenwärtig (Ende September) befinden sich jedenfalls rund 40 % der Weltwirtschaft in einer Rezession oder in einem merklichen ökonomischen Abschwung. Und beim Rest müssen deutliche Korrekturen bei den Wachstumsprognosen vorgenommen werden. In den Industriestaaten hat die Krise die Realwirtschaft bislang weitgehend ausgespart. Doch die Angst, sie könnte auch die bis dato verschonte Teile der Weltwirtschaft infizieren, ist nicht völlig unbegründet. Manche malen sogar das Schreckgespenst einer globalen Deflation (Prozeß ständiger Preisniveausenkungen) an die Wand - eine Gefahr, die eigentlich seit den 30er Jahren endgültig gebannt schien. Unweigerlich steht hier der Neoliberalismus als funktionierende Wirtschaftstheorie in Frage. Weil der Deutsche Aktienindex (DAX) nach seinem historischen Hoch von 6171 Punkten (20. Juli 1998) inzwischen kräftig verloren hat (4433 Punkte am 21.09.1998), dürften dem neuerdings selbst die hiesigen Börsenspekulanten zustimmen. Nun hält sich mein Mitleid mit denen, die naiverweise an eine schier unbegrenzt anhaltende Hausse geglaubt haben, naturgemäß in engen Grenzen. Wer sich noch vor kurzem von vermeintlich gut informierten Analysten einflüstern ließ, das Jahresziel des DAX könne Ende 1998 bei 6700 Punkten liegen, ist an seinen Verlusten im Grund genommen selbst schuld. Bei solch sagenhaften Gewinnaussichten setzt bisweilen der Verstand aus, die Gier nach dem schnellen Geld macht augenscheinlich blind für die damit verbundenen Risiken. Innerhalb eines halben Jahres (von Januar bis Juli 1998) ist der DAX um 50 % gestiegen, das konnte natürlich im eigentlichen, aus den Geschäftsergebnissen resultierenden Wert der Aktiengesellschaften keine Entsprechung finden. Die Firmen sind in dieser Zeit nicht wirklich um 50 % wertvoller geworden. Darüber hinaus verwechselten viele Kleinanleger den jeweils aktuellen Kurswert mit bereits realisierten Gewinnen. Ein entscheidender Unterschied, denn die Wertsteigerung einer Aktie muß ja erst am Markt durch den Verkauf derselben erzielt werden. Vorher stehen die Gewinne bloß auf dem Papier. Und in der Baisse mangelt es vor allem an einem: an Käufern. Der rasante Wertzuwachs der Aktien war also eine reine Spekulationsblase - jetzt droht sie zu platzen. Allzu gutgläubig sollte man eben an das globale Monopoli nicht herangehen, denn dort wird mit echtem Geld gezockt. Spielgeld en masse haben am Ende nur die Loser. Und solche gibt es zur Zeit zuhauf. Die allseits verbreitete Zockermentalität, dieses "ausschließlich auf Rendite achten", das, was man gemeinhin als "Globalisierung" bezeichnet, aber in Wirklichkeit eine Renaissance des Manchester-Kapitalismus bedeutet, ist die wahre Ursache der momentanen Krise. Die angeblich unkontrollierbare Spekulation verursacht Instabilitäten, unter denen dann Millionen zu leiden haben. In Indonesien beispielsweise leben gegenwärtig 90 von 203 Millionen Einwohnern unterhalb des Existenzminimums, d.h. sie hungern. Und die Bedingungen des IWF (Internationaler Währungsfonds), wie Schuldnerländer der Krise gefälligst zu begegnen haben (z.B. mit Aufgabe der Subventionierung von Nahrungsmitteln), lassen wenig Einfühlungsvermögen für die soziale Lage der Bevölkerung erkennen. Wirtschaftspolitische Ideologie macht offensichtlich auch ihn blind für die Realität. Was folgt ist Chaos, das die Krise nur noch weiter verschärft. Wir haben uns den Spekulanten zu allem Überfluß auch noch selbst ausgeliefert. Das am 23.07.1944 in Bretton Woods (New Hampshire, USA) von 45 Staaten beschlossene Abkommen über feste Wechselkurse funktionierte bis März 1973, dann mußte es aufgrund von Zahlungsbilanzungleichgewichten aufgegeben werden. Seitdem richten sich die Wechselkurse nach dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage. Mit anderen Worten: Die Spekulanten übernahmen das Ruder, das man ihnen bereitwillig überlassen hat. Inzwischen haben sich die internationalen Finanztransaktionen und Kapitalströme infolge der Globalisierung weitgehend verselbständigt und sind für die heftigen Turbulenzen des Währungsgefüges verantwortlich. Zwischen 1979 und 1994 hat der grenzüberschreitende Handel mit Waren und Dienstleistungen um 134 % zugenommen, der Handel mit Devisen allerdings um ein Vielfaches, nämlich um 833 %. Der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) zufolge wurden 1996 an einem durchschnittlichen Tag Devisenumsätze in Höhe von 1,25 Billionen US-$ getätigt, der Welthandel hatte im gesamten Jahr 1996 jedoch nur ein Volumen von 5,35 Billionen. Die internationalen Devisentransaktionen waren folglich rund 85mal so stark wie die realwirtschaftlichen Vorgänge, denen sie eigentlich zugrunde liegen sollten. Und bei 80 % der Devisengeschäfte finden Kauf und Verkauf innerhalb von maximal sieben Tagen statt. Kurz und gut: Heute dient der überwiegende Teil des Handels mit Währungen der reinen Spekulation. Welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen? Stellvertretend als ein Kontrollelement des Kapitalmarkts: die Tobin-Tax. Da offensichtlich weniger die Handelsströme, sondern vielmehr die kurzfristigen zins- und spekulationsbedingten internationalen Kapitalbewegungen für die Kursentwicklung der Währungen ausschlaggebend sind, entwickelte James Tobin (geb. 1918, amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler, Nobelpreis 1981) eine Gegenstrategie. Er richtete sein Augenmerk auf grenzüberschreitende Spekulationsgeschäfte. Tobin empfahl eine globale Devisentransaktionssteuer - die Tobin-Tax. Sie könnte die Devisenspekulation wirksam unterbinden, denn sie macht das Ziel der Spekulanten, minimale Wechselkursschwankungen gewinnbringend auszunutzen, unrentabel und damit unattraktiv. Den internationalen Warenaustausch würde sie aufgrund ihrer geringen Höhe dagegen nicht behindern (manche halten schon einen Steuersatz von 0,005 Prozent für absolut ausreichend; das sind bei 1000 Mark Warenwert ganze 5 Pfennig). Die von der realen Wirtschaft abgehobene Währungs- und Aktienspekulation ist momentan die größte Gefahr für die Weltwirtschaft. Wir müssen sie unbedingt einer stärkeren Kontrolle unterziehen. Eine Haltung des Laissez faire können wir uns schlechterdings nicht mehr leisten. Wer die Krise ohne Konsequenzen zu ziehen aussitzen will, riskiert den Zusammenbruch der globalen Ökonomie - mit allen daraus resultierenden sozialen und politischen Folgen. Wirtschaftspolitik hat sich in erster Linie an der Bevölkerungsmehrheit auszurichten, und nicht an den egoistischen Bedürfnissen einer kapitalkräftigen, dafür aber um so steuerfaulen Minderheit. Wenn dann bei notwendig gewordenen Rettungsaktionen auch noch die immensen Spekulationsverluste sozialisiert werden, indem z.B. der Steuerzahler Finanzinstitute vor dem Zusammenbruch rettet, ist das Ganze einfach nur als pervers zu bezeichnen. Und wenn sich der Kongreß im ach so gelobten Amerika endlich diesen echten Perversitäten widmen würde, anstatt Spermaflecken auf dem Kleid einer jungen Praktikantin zu untersuchen oder die Sexualpraktiken des Präsidenten per Internet dem allgemeinen Voyerismus auszuliefern, wäre das äußerst hilfreich. Der uns dargebotene Porno könnte sich nämlich in der Wahrnehmungspräferenz der Öffentlichkeit sehr schnell in einen Wirtschaftskrimi verwandeln. Eine heruntergekommene Weltwirtschaft ist selbst in den vergnügungssüchtigen USA allemal wichtiger als die heruntergelassenen Hosen von Bill Clinton. Weswegen? Nun, weil man sich auch dort im Ernstfall lieber ums Fressen kümmert. |