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13. September 1996, von Michael Schöfer
Wir stellen die falschen Fragen


"Der, die, das. Wer, wie, was. Wieso, weshalb, warum? Wer nicht fragt bleibt dumm!" Den Titelsong der Kindersendung Sesamstraße kennen sicherlich die meisten. Wer nicht fragt bleibt dumm? Gewiß, aber was geschieht, wenn man bezüglich eines konkreten Problems die falschen Fragen stellt? Dann erhält man wahrscheinlich die falschen (d.h. inadäquate) Antworten. Ganz einfach. Und hier gibt es m.E. frappierende Parallelen zum Kardinalproblem der Wirtschaftspolitik - der in allen westlichen Industriestaaten grassierenden Arbeitslosigkeit. Zu diesem Problem lautet die klassische Frage bekanntlich: Wie können wir die Arbeitslosigkeit reduzieren resp. beseitigen?

Der Zustand der Ökonomie unter den Vorzeichen einer fortschreitenden Globalisierung läßt allerdings traditionelle Methoden zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit (Wachstumspolitik, Herstellen der Konkurrenzfähigkeit mittels Sozialabbau) wirkungslos verpuffen. Das nach wie vor vorhandene (wenn auch vergleichsweise bescheidene) Wirtschaftswachstum hat - im Gegensatz zu früher - nicht mehr den entsprechenden Arbeitsplatzzuwachs zur Folge (jobless growth). So stieg in Deutschland das reale Bruttoinlandsprodukt zwischen 1991 und 1995 um 5,9 Prozent, die Zahl der Erwerbstätigen sank hingegen im gleichen Zeitraum um 4,5 Prozent. Traditionelle Methoden der Beschäftigungspolitik sind offensichtlich nutzlos. Im Gegenteil, sie verursachen eine zunehmende Verarmung weiter Bevölkerungskreise und wirken darüber hinaus unter ökologischen Gesichtspunkten schlechterdings katastrophal.

Angaben jeweils für Gesamtdeutschland:
Jahr reales Bruttoinlandsprodukt
(in Preisen von 1991)
Erwerbstätige
1991 2853,6 Mrd. 36,5 Mio.
1992 2916,4 Mrd. 35,9 Mio.
1993 2882,6 Mrd. 35,2 Mio.
1994 2965,1 Mrd. 35,0 Mio.
1995 3022,8 Mrd. 34,9 Mio.

Unter den westlichen Industriestaaten ist, insbesondere in den angelsächsischen Ländern (USA, Großbritannien), das Phänomen der "working poor", also der arbeitenden Armen, weit verbreitet (18 % der ganzjährig vollzeitbeschäftigten US-Amerikaner verdienen nicht genug, um eine vierköpfige Familie über der offiziellen Armutsgrenze zu halten). Es tritt zwar hierzulande zum Glück noch nicht so ausgeprägt in Erscheinung, der Trend zu Leichtlohntarifen ist jedoch zweifellos auch in der Bundesrepublik vorhanden. Das propagandistische Trommelfeuer von Kabinett und Kapital hat hier spürbar Wirkung hinterlassen, denn beide führen den Mangel an Erwerbstätigkeit monokausal auf eine einzige Ursache zurück: die vermeintlich exorbitante Höhe des Lohnniveaus und der Steuern. Ein Standpunkt, der inzwischen selbst von konservativen Wirtschaftswissenschaftlern (siehe z.B. Gutachten des Ifo-Instituts) nur noch eingeschränkt geteilt wird.

Phantasielos taumelt die Bundesregierung von einem Sparprogramm zum anderen, obgleich bereits alle vorangegangenen hinsichtlich der Beschäftigungseffekte erfolglos geblieben sind. Aber Erfolglosigkeit scheint sie nur in der Ankündigung weiterer Sparmaßnahmen zu ermutigen. Was folgt, ist eine soziale Abwärtsspirale, aber keine Besserung der Verhältnisse. Es ist außerdem absolut schleierhaft, wie z.B. aus der Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (welche übrigens den öffentlichen Kassen erhebliche Steuerausfälle beschert) oder der Beschneidung von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe Arbeitsplätze entstehen sollen. Hierbei wird Massenkaufkraft nur noch weiter beschnitten. Antizyklische Wirtschaftspolitik (verstärkte Investitionen des Staates in der Rezession, reduzierte während des Aufschwungs) ist angesichts der Staatsverschuldung wiederum fast nicht durchführbar. Erstens drohen die Konvergenzkriterien von Maastricht die Teilnahme der Bundesrepublik an der Europäischen Währungsunion zu vereiteln, und zweitens hat man die öffentlichen Kassen selbst bei guter Konjunktur kräftig geplündert. Und zwar so, als bestünde die Theorie vom antizyklischen Verhalten nur aus einer einzigen Devise: Verschulde dich hemmungslos.

Daß die Unternehmer in wirtschaftspolitischer Kompetenz dem in nichts nachstehen, beweisen sie mit ihren Forderungen nach deutlichen Lohnreduzierungen, klagen aber gleichzeitig über die mangelnde Kaufkraft der Konsumenten. Nachdruck verleihen sie dem Ganzen mit der Verlagerung von Arbeitsplätzen in sogenannte Billiglohnländer, was ihre Erfolgsaussichten auf dem Binnenmarkt abermals vermindert. Überdies mutiert der Sachverhalt zum ökonomischen Treppenwitz, weil die dort produzierten Waren aufgrund ihres Preises nur hier, in den Hochlohnländern, abzusetzen sind. Henry Ford (1863-1947) hatte fraglos recht: "Autos kaufen keine Autos!", weshalb er logisch folgerte: Also müssen Löhne gezahlt werden, die den Arbeitern den Kauf meiner Autos erlauben. 1914 verdoppelte (!) Ford die Löhne seiner Arbeiter auf damals sagenhafte 5 US-Dollar pro Tag. Das Wall Street Journal sprach zwar in jenen Tagen von einem "Wirtschaftsverbrechen", in der Realität wurde Ford indes glänzend bestätigt. Aber einfache Wahrheiten haben heute scheinbar ihre Gültigkeit verloren. Oder fehlt es in den Vorstandsetagen nur an entsprechender Weitsicht? Stimmt das Sprichwort von den "Nieten in Nadelstreifen" also doch?

Andererseits stellen aus meiner Sicht auch die bisher veröffentlichten Vorstellungen der Bündnisgrünen keine befriedigende Lösung dar. Bei sofortiger Einführung der von den GRÜNEN geforderten Ökosteuer rechnet man seitens des DIW (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) in den nächsten 10 Jahren per Saldo mit 500.000 zusätzlichen Arbeitsplätzen (die GRÜNEN selbst taxieren den Gewinn für das Jahr 2020 bescheiden auf 200.000), das ist zwar besser als nichts, aber angesichts von rund 4 Mio. Arbeitslosen kaum mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Der Produktivitätsfortschritt wird traditionelle Erwerbsarbeit - ökologische Steuerreform hin oder her - zunehmend überflüssig machen. Sich hier in die Tasche zu lügen wäre fatal, denn bedauerlicherweise ist das Problem damit nicht aus der Welt. Die Ökonomische Realität pflegt sich nun mal wenig nach wohlklingenden Formulierungen auszurichten, unter diesem Manko leiden schon die Sparprogramme der Regierungskoalition ("Programm für Wachstum und Beschäftigung"), so sehr uns dies mißfallen mag.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes ist die Arbeitsproduktivität in Westdeutschland seit 1960 um beachtliche 240 % gestiegen, warum sollte das in Zukunft grundlegend anders sein? Nur weil dann Arbeit billiger, Energieverbrauch hingegen teurer ist? Natürlich bekäme die Produktinnovation eine andere Richtung, der Arbeitsplatzeffekt (siehe Gutachten des DIW) bleibt dessenungeachtet relativ bescheiden. Der Rohbau von japanischen Hochhäusern kann heute bereits von Robotern praktisch im Alleingang erledigt werden, durch den hierzulande schon als Prototyp entwickelten Bauroboter "Bronco" werden demnächst weitere Maurer arbeitslos, und Bankgeschäfte per Internet ermöglichen den Kreditinstituten immense Rationalisierungsmöglichkeiten. An deutschen Tankstellen kann ab 1998 das Tanken und Einkaufen an den Zapfsäulen vollautomatisch vonstatten gehen. Bezahlt wird mit Kreditkarte, was dann wohl auch die letzten verbliebenen Hilfskräfte an den Tankstellenkassen überflüssig machen dürfte. Sicherlich repräsentieren die genannten Beispiele nur die Spitze eines bedrohlich auf uns zutreibenden Eisbergs, denn alle Erfahrung zeigt, was technisch machbar ist, wird früher oder später verwirklicht. Um es ganz freimütig auszusprechen: Jobs, qualifizierte zumal, sind künftig Mangelware. Selbst die ökologische Steuerreform wird diesen Trend nicht aufhalten, bestenfalls verlangsamen. Daraus folgt unweigerlich: Wir müssen uns (zusätzlich zur ökologischen Steuerreform, die ja deswegen nicht unsinnig ist) notgedrungen etwas anderes einfallen lassen.

Wenn traditionelle Arbeitsmarktpolitik versagt, wenn sie sich als unfähig erweist, mit den herkömmlichen Mitteln eine ausreichende Anzahl an Arbeitsplätzen bereit zu stellen, wenn der Produktivitätsfortschritt und die Veränderung der globalen Wirtschaftsbeziehungen jeden noch so bescheidenen Wachstumsimpuls konterkarieren, ist das hartnäckige Bestehen auf Schaffung von Arbeitsplätzen nichts anderes als ökonomische Donquichotterie. Die konventionelle Lösung, welche uns in Bonn gerade vorexerziert wird (massiver Sozialabbau), ist aus diesem Grund nichts anderes als das hoffnungslose Anrennen gegen Windmühlenflügel. Wertvolle Ressourcen werden in einem Kampf verschwendet, der langfristig nicht zu gewinnen ist.

Es beginnt mit den richtigen Fragen, wir stellen nämlich - meiner Meinung nach - die falschen. Es geht in Wahrheit in den modernen Industriegesellschaften nicht um das Schrumpfen der Erwerbsarbeit - das ist praktisch unausweichlich -, sondern vielmehr um die entsprechende Bewältigungsstrategie. Deshalb sollte nicht die Frage nach der Beseitigung der Arbeitslosigkeit im Vordergrund stehen, sondern eher die Frage, wie wir mit dem unabwendbaren Mangel an Arbeit in Zukunft leben können. Doch Vorsicht, diesen Satz kann man leicht mißverstehen. Um es gleich vorwegzunehmen, es soll hier keineswegs einem kruden Fatalismus gefrönt werden, andererseits möchte ich mit richtigen Fragen zu adäquaten Antworten gelangen. Wenn man unterstellt, daß die Arbeitslosigkeit mit den herkömmlichen Mitteln auf dem traditionellen Arbeitsmarkt nicht zu beseitigen ist - und wer mag daran angesichts der oben genannten Tatsachen zweifeln - wie könnten dann andere, unkonventionelle Lösungen aussehen?

Stellen wir zunächst einmal fest: Geld ist - allen Unkenrufen zum Trotz - in unserer Gesellschaft keinesfalls Mangelware. Es kommt somit lediglich darauf an, wie wir das (weiter wachsende) Volkseinkommen entsprechend den veränderten Gegebenheiten verteilen. Da in Zukunft bezahlte Erwerbstätigkeit zwangsläufig eine untergeordnete Rolle spielen wird, muß sich die Gesellschaft eben entsprechend anpassen. Meiner Meinung nach benötigen wir ein grundsätzlich anderes Verhältnis zur Arbeit. Hierzu gehört als Grundvoraussetzung: Die Verteilungsmechanismen bedürfen einer radikalen Korrektur. Heutzutage erwerben die meisten ihren Anteil am Volkseinkommen praktisch ausschließlich über die berufliche Tätigkeit. Arbeitslose läßt man zwar nicht verhungern (immerhin ein Fortschritt), aber mehr als das Existenzminimum sollen sie nach regierungsamtlicher Auffassung nicht abbekommen. In Wirklichkeit fallen sie den Apologeten des Neoliberalismus beträchtlich zur Last, denn sie erhalten eine Leistung (Lebensunterhalt) ohne Gegenleistung (Arbeit). Das ist Blasphemie, wir leben schließlich in einer Leistungsgesellschaft. Unterschwellig wird der Staat in Leistungsträger und Schmarotzer aufgeteilt ("Es liegen zu viele in der sozialen Hängematte").

Doch das hierbei zugrundeliegende Menschenbild muß man sich ja nicht zwangsläufig zu eigen machen. Ist die Definition des Menschen über seine Arbeit wirklich sakrosankt, ist sie nicht geradezu inhuman? Was würde passieren, wenn die Gesellschaft Lösungen jenseits des üblichen Verteilungsschlüssels entwickelt, wenn jeder seinen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum auch ohne (bzw. mit stark reduzierter) Erwerbstätigkeit erhält? Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß uns am Ende gar nichts anderes übrig bleibt. Noch sind wir nicht so weit. Aber mit der veränderten Fragestellung "Wie können wir uns mit vermindertem Arbeitskräftebedarf auf humane Weise arrangieren?" anstatt "Wie verhindern wir ihn?" kommen plötzlich völlig neue Wege in Betracht. Zumindest halte ich die Diskussion darüber für wesentlich fruchtbarer, als die über traditionelle und letztlich unwirksame Beschäftigungsprogramme. Im übrigen beklagen wir ja zur Zeit außer dem Mangel an Arbeit nichts so sehr, wie den Mangel an Utopien. Na bitte, zwei Fliegen mit einer Klappe!