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04. November 1997, von Michael Schöfer
Kriminalität - beliebtes Spielfeld für Populisten


Kriminalität ist, nicht zuletzt durch die Landtagswahlen in Hamburg, wieder ins Gerede gekommen. Und gerade hier tummeln sich die großen Vereinfacher, die bei den BürgerInnen zunächst die entsetzlichsten Ängste schüren, nur um danach als glanzvolle Retter in der Not auftreten und die vermeintlich erfolgreichen Patentrezepte anbieten zu können. Im Ergebnis beschränkt sich das dann zumeist auf die Forderung nach härteren Gesetzen. Die Kriminalitätsrate bleibt davon allerdings im großen und ganzen unberührt, aber man hat zumindest einige Grundrechte beschnitten, ist somit dem Obrigkeits- und Überwachungsstaat wieder ein gutes Stück näher gekommen. Die derzeitige Masche ist der Versuch, die New Yorker Kriminalitätsbekämpfung zu kopieren und auf hiesige Verhältnisse zu übertragen. "Null Toleranz" (siehe Glossar) lautet deshalb neuerdings das Stichwort.

Gewiß, es soll nichts verharmlost werden. Dennoch sei vermerkt, daß von einem drastischen Anstieg der Kriminalität, wie er vielfach unterstellt wird, nicht gesprochen werden kann. 1996 verblieb die Kriminalitätsrate in der Bundesrepublik mit 6,6 Mio. registrierten Straftaten zwar weiterhin auf recht hohem Niveau, sie ist indes seit 1993 (dem Jahr mit dem höchsten Wert nach der Wiedervereinigung) um 1,5 % gesunken. Kein Grund zur Entwarnung, aber auch kein Anlaß zur Panikmache. Sorgen bereitet insbesondere der starke Anstieg der Jugendkriminalität. Gegenüber 1995 stieg die Anzahl der Straftaten in der Altersgruppe 14 - 17 Jahre um 9,2 %, in der Altersgruppe 8 - 14 Jahre sogar um 13,7 %. Überproportional angewachsen ist ebenso die Wirtschafts- (+23,8 %) Umwelt- (+11,2 %) und Gewaltkriminalität (+5,5 %).

Unter Kriminologen ist es längst eine Binsenweisheit: Gerade die Älteren, die am meisten Angst haben, werden am seltensten Opfer. Die Jüngeren, die sich am sichersten fühlen, sind am stärksten gefährdet. Mit anderen Worten: Zwischen subjektivem Kriminalitätsempfinden und der objektiven Realität klafft eine beträchtliche Lücke. Was not tut, ist demzufolge eine Versachlichung der Diskussion über Kriminalität. Trotzdem hat diese mittlerweile ein Niveau erreicht, das noch vor ein paar Jahren undenkbar gewesen wäre. So erfand man anläßlich der Chaos-Tage in Hannover flugs den "systemtreuen Bürger", der sich von den mutmaßlichen Chaoten positiv abheben und deshalb von polizeilichen Maßnahmen verschont bleiben sollte. Was unter einem solchen zu verstehen sei, wurde allerdings nicht näher definiert. Bunte Haare oder Irokesen-Schnitt trägt er jedenfalls nicht. In die Gesetze, an die jedes rechtsstaatliche Handeln gebunden ist, hat dieser Terminus jedoch bislang keinen Eingang gefunden. Vermutlich erlebt die Krawatte demnächst eine echte Renaissance - als sichtbarer Beweis für staatstragende Gesinnung. Nähere Auskünfte darüber, wie das Tragen korrekter Kleidung Kriminalität schon im Ansatz verhindert, erteilt Ihnen gerne der ehemalige (und zur Zeit leider einsitzende) Baulöwe Jürgen Schneider.

Klaus-Rüdiger Landowsky, CDU-Fraktionsvorsitzender im Berliner Abgeordnetenhaus, ließ sich zu folgender Bemerkung hinreißen: "Es ist nun einmal so, daß dort, wo Müll ist, Ratten sind und daß dort, wo Verwahrlosung herrscht, Gesindel ist. Das muß in der Stadt beseitigt werden." Gesindel ist nach Landowskys Meinung gleichzusetzen mit "kriminellem Abschaum", der "mit den Ausländern aus Rußland, Rumänien, Libanon, China und Vietnam" nach Berlin gekommen sei. Eine Äußerung, die man eher beim "Völkischen Beobachter" vermutet hätte. Der Kasseler CDU-Bürgermeister, Dr. Jürgen Gehb, spricht manchen kurzerhand die vom Grundgesetz garantierten Bürgerrechte ab. "Wir ziehen das Gesocks hier an, in jeder Beziehung, zu uns kommen alle, auch Penner und andere Leute, die in der Peripherie weggejagt werden, die werden bei uns schön gehätschelt und getätschelt." Die Substanz des christlichen Menschenbildes tritt deutlich zutage, finden Sie nicht? Fehlt eigentlich nur, erneut das "gesunde Volksempfinden" zu bemühen. Doch das zu zitieren hat man sich noch nicht getraut. Vorerst.

Auch in Mannheim geriert sich die Christlich (?) Demokratische Union gerne populistisch. Da wird von "Müßiggängern" gesprochen, "die sich dem öffentlichen Alkoholkonsum hingeben". Durch das Verbot von Alkoholkonsum in den Straßen (Straßenfeste und Straßencafes sind selbstverständlich ausgenommen) "soll eine sozialschädliche Belastung des Straßenbilds vermieden werden". Gemeinsam mit dem Mannheimer Morgen wettert man gegen Junkies, Bettler, Obdachlose und Schmuddelecken. Folge hiervon ist dann beispielsweise eine Sperrgebietsverordnung, die das Drogenproblem zwar von einem Stadtteil in den anderen verlagert, aber nicht grundsätzlich lösen kann. Rolf Schmidt, CDU-Fraktionsvorsitzender im Mannheimer Gemeinderat, bemerkt zur grünen Forderung nach einer einschneidenden Änderung der inhumanen Drogenpolitik lapidar, sie entspräche nicht "kurpfälzer Tradition" (Mannheim Illustriert 10/1997). Wie ungeniert man seine intellektuelle Genügsamkeit der Öffentlichkeit präsentiert, verwundert immer wieder aufs neue.

Nun bereitet der Anblick von drogensüchtigen Prostituierten, Alkoholikern und Bettlern wahrlich keine erhebenden Gefühle. Und Kriminalität läßt sich nicht monokausal auf eine einzige Ursache zurückführen. Aber eine Gesellschaft, die unablässig die rücksichtslose Durchsetzung egoistischer Ziele propagiert, die soziale Sicherheit zum Standortrisiko erklärt, braucht sich über eine hohe Kriminalitätsrate fürwahr nicht zu wundern. Das Sein bestimmt das Bewußtsein, und man erntet, was man sät. Ein Beispiel: Der Armutsbericht des DGB und des Paritätischen Wohlfahrtsverbands hat 1994 festgestellt: "Mehr als jedes andere Merkmal weist (...) die Nationalität einen engen Zusammenhang mit Unterversorgungsrisiken in der Bundesrepublik Deutschland auf; es läßt sich somit bei den Ausländern von einer ausgesprochenen Armutsgruppe sprechen." Darüber hinaus wird jungen Ausländern immer noch die juristische Grundvoraussetzung für deren volle Integration verweigert (doppelte Staatsangehörigkeit). Sind wir angesichts dessen von der rapide wachsenden Jugendkriminalität, insbesondere bei ausländischen Jugendlichen, wirklich überrascht?

Der Hamburger Kriminologe, Fritz Sack, bezieht mit Blick auf die USA klar Position: "Ich glaube einfach, daß besonders in den USA Verbrechen die unvermeidliche Folge sozialer Ungerechtigkeiten sind. (...) In den amerikanischen Städten gibt es die "new urban underclass", junge Leute zwischen 18 und 35, abgekoppelt von jedem Arbeitseinkommen und zumeist unter der Aufsicht von Polizei und Justiz. (...) Was daraus wird, können Sie in den Favelas Lateinamerikas beobachten. Da ist Kriminalität kein Verhalten einzelner mehr, sondern ein Zustand." (Der Spiegel 12/1997). Der Stuttgarter Polizeipräsident, Volker Haas, sieht das in bezug auf Deutschland ebenso: "Die zentrale Ursache der Eigentumskriminalität von Jungtätern sind die sozialen Gegensätze, die sich in den letzten Jahren enorm verschärft haben."

Der menschenverachtende Zynismus der CDU ist unübertroffen: Seit 1982 im Bund an der Macht, hat sie zwischenzeitlich die Zahl der Sozialhilfeempfänger (+150 %) und Arbeitslosen (+243 %) gewaltig in die Höhe getrieben, nun möchte sie die unliebsamen Folgen ihrer eigenen Politik gerne mit dem Ordnungsrecht aus dem Blick der Öffentlichkeit verbannen. Repression, nicht Prävention, heißt ihre Devise. Bekämpfung der Armen, nicht der Armut. Geht es nach dem Willen der Hardliner, wandern die desillusionierten Jugendlichen zum Ausgleich für fehlende Ausbildungsplätze in Kürze viel früher und deutlich länger ins Gefängnis. Die Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters von 14 auf 12 Jahre wird nämlich ebenso heftig gefordert wie das Heraufsetzen der Höchststrafe im Jugendrecht (von 10 auf 15 Jahre). Zudem sollen Heranwachsende vermehrt nach dem härteren Erwachsenenstrafrecht verurteilt werden. So mutiert die Justiz zum Reparaturbetrieb für gesellschaftliche Fehlentwicklungen. Ob es hilft, ist mehr als fraglich, denn die Rückfallquote bei Jugendlichen ist spürbar höher als bei Erwachsenen. Tatsachen, die Populisten gerne ignorieren.

Mit Verdrängungsmechanismen, wie der Forderung nach härteren Gesetzen, ist die Kriminalität also nicht in den Griff zu bekommen, vielmehr sollte man endlich die Ursachen bekämpfen, anstatt immer bloß die Symptome. Werte seien gefragt, sagen daraufhin selbst die Befürworter einer Strafverschärfung. Aber wer soll sie denn vorleben, sie glaubwürdig vermitteln? Die Politiker? Die Wirtschaft? Die Medien? Ich kann durchaus nachvollziehen, sollten Sie jetzt unter Lachkrämpfen zu leiden haben. Wenn wir ehrlich sind, so stellen wir unweigerlich fest, daß die moralische Substanz unserer Gesellschaft nicht von den Außenseitern unterminiert wird. Es ist das Establishment selbst, das die Werte bedroht. So wächst die Wirtschaftskriminalität seit Jahren am stärksten, und Steuerhinterziehung - in der Bundesrepublik taxiert man sie auf 100 bis 150 Mrd. DM pro Jahr - ist doch gerade bei den Vermögenden populär. Die Außenseiter (Bettler, Junkies, Obdachlose etc.) sind für die Öffentlichkeit wahrnehmbar, die anderen tun alles im verborgenen. Sind letztere deshalb weniger bedrohlich, gedenkt man gegen sie ähnlich rigoros vorzugehen? Wohl kaum.

Solange sich in der Bekämpfung der Kriminalität diese eigentümliche gesellschaftliche Schizophrenie manifestiert (frei nach George Orwell [Farm der Tiere]: Vor dem Gesetz sind alle gleich, doch manche sind gleicher), kann ich der Forderung nach härteren Gesetzen überhaupt nichts abgewinnen. Im Gegenteil, die bestehenden reichen völlig aus. Es kommt - neben der Ursachenbekämpfung - lediglich darauf an, sie konsequent anzuwenden. Zeigen wir den Populisten die rote Karte.