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07. November 1997, von Michael Schöfer
Das New Yorker Modell


High noon in New York. Die Helden des Films, welche gegenwärtig sämtliche Innenminister der Bundesrepublik begeistern: Bürgermeister Rudolph Giuliani und sein (inzwischen abgesetzter) Polizeichef William Bratton. Sie räumen auf, gründlich und unbarmherzig. Mit einem neuen Polizeikonzept halbieren sie die Kriminalitätsrate New York Citys. Kein Wunder, daß Giuliani ("Das Böse besiegen, Drogen und Gewalt dezimieren") kürzlich mit überwältigender Mehrheit wiedergewählt wurde. Gary Cooper hätte es nicht besser machen können, die von Giuliani und Bratton angewandten Methoden entsprechen denn auch in etwa der filmischen Vorlage.

Die Erfolge in New York sind vordergründig auf zwei wesentliche Komponenten zurückzuführen: Erstens ein neues Polizeikonzept (Null Toleranz, siehe Glossar) und zweitens eine tiefgreifende Umstrukturierung der Polizeitruppe. Brattons Philosophie: "Die Polizei muß sich an den Bürgern orientieren, sie schützen vor Schmutz und Belästigung." Ihre Probleme gelte es zu lösen, nicht die der Justiz. Verbrecherjagd sei der Job von gestern, zitiert ihn der SPIEGEL. Wo immer sich ein Sicherheitsrisiko eröffne, sofort da sein, eingreifen, nicht erst, wenn es passiert ist, nach den Tätern suchen.

Zunächst stellte New York massenhaft Polizisten ein, in der 7,5 Mio.-Metropole stieg die Zahl der Beamten von 39675 auf 44494, ein Zuwachs von 4819 (= 12 %). Die Polizeidichte (auf jeweils 100.000 Einwohner) ist dort mit 593 Beamten deutlich höher als in Frankfurt a. M. (382 Beamte), der Kriminalitätshauptstadt Deutschlands. Die Computerausstattung der New Yorker Polizeibehörde wurde radikal modernisiert und die Beamten zeigen auf der Straße wieder Präsenz, ohne lediglich in den Amtstuben auf die Hilferufe von Bürgern zu warten. Von Verwaltungsarbeit wurden sie weitgehend entlastet. Zudem werden die Polizeiführer einer permanenten Erfolgskontrolle unterzogen. Wer keine Erfolge vorzuweisen hat, wird entlassen.

Zugrunde liegt dem Ganzen die Broken-Window-Theorie der US-Sozialforscher George L. Kelling und James W. Wilson (siehe Glossar). Rückeroberung des öffentlichen Raumes, lautet nun das neue Konzept. Mit "Null Toleranz" will man der Verwahrlosung entgegenwirken. Folge davon ist, daß beispielsweise eine geöffnete Dose Bier in der Hand für eine erkennungsdienstliche Maßnahme, für Durchsuchung und Registrierung im Polizeicomputer ausreicht (das Trinken von Alkohol in der Öffentlichkeit ist verboten). Wer in der New Yorker U-Bahn auf den Boden spukte oder mal in der Ecke urinierte, fand sich über Nacht ebenso in einer Zelle wieder wie die Schwarzfahrer. Obdachlose wurden aus den U-Bahn-Schächten vertrieben und zum Teil in die städtischen Notunterkünfte gezwungen. Andererseits ermitteln gegenwärtig 700 New Yorker Polizeibeamte wegen Foltervorwürfen gegen ihre eigenen Kollegen. Die Zahl der Beschwerden gegen gewalttätige Polizisten hat zwischen 1992 und 1995 beinahe verdoppelt.

Kritiker bewerten das New Yorker Modell in bezug auf die Bundesrepublik für nicht übertragbar. Mit dem dort gezeigten Mangel an Verhältnismäßigkeit widerspreche es eindeutig dem Grundgesetz, sagen sie. Und daß der Rückgang der Straftaten in New York einzig und allein auf Brattons Wirken zurückzuführen sei, wird gleichfalls in Zweifel gezogen. Denn bereits vor dessen Amtsantritt sei die Zahl der Tötungsdelikte um 44 % gesunken, Einbrüche hätten um 34 % und Autodiebstähle um 42 % abgenommen. Hinzu komme, daß New York nicht die einzige amerikanische Stadt sei, in der die Kriminalitätsrate zurückgegangen ist.

Das Kopieren des New Yorker Modells ist, von juristischen Bedenken einmal abgesehen, schon allein aufgrund der Reformunwilligkeit der zuständigen Landesregierungen und dem eklatanten Mangel an Haushaltsmitteln kaum durchsetzbar. So verblieb z.B. von der Absicht der baden-württembergischen Landesregierung, die Landespolizei grundlegend zu reformieren, nicht mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Zur Zeit sind weder die hierfür notwendigen Neustellen noch eine adäquate Technikausstattung vorhanden bzw. vorgesehen. Letztlich ändert sich dort, trotz millionenfachem Aufwand für ein externes Gutachten einer Unternehmensberatung, praktisch nichts. Der Berg kreiste und gebar eine Maus.

Gegen eine professionelle, effektive und präsente Polizei ist - auch aus grüner Sicht - überhaupt nichts einzuwenden. Die vermeintlich billige Alternative, immer wieder neue und härtere Gesetze am Rande des Rechtsstaats zu beschließen, darf dagegen mit Recht als in hohem Maße bedenklich bezeichnet werden. Wer suggerieren will, Kriminalität wäre ausschließlich mit hartem Durchgreifen und drakonischen Strafen in den Griff zu bekommen, erntet letztlich den Polizei- und Überwachungsstaat. Dieser äußerst sich bereits u.a. in den Immunitätsbestrebungen für die Beamten von Europol und dem "Großen Lauschangriff". Ob die BürgerInnen damit langfristig einverstanden sind, ist äußerst fraglich. Und eine Strategie, die die wahren Ursachen von Kriminalität ignoriert, bleibt außerdem auf Dauer unwirksam.

High noon mit den entsprechenden Konsequenzen auch bei uns? Nein, danke.

Glossar

Null Toleranz: Selbst kleinste Regelverstöße (Betteln, Alkoholtrinken in der Öffentlichkeit, Ampelüberquerung bei Rot etc.) sollen geahndet werden. In New York dient das der Polizei als Begründung für massenhafte Personenkontrollen, die Personalien und Fingerabdrücke von SchwarzfahrerInnen und Open-Air-Pinklern werden im Polizeicomputer erfaßt. Schwarzfahrer werden über Nacht eingesperrt.

Broken-Window-Theorie: Sie besagt, daß bereits geringe Anzeichen der Verwahrlosung unwillkürlich weitere und schwerwiegendere Straftaten nach sich ziehen. Die US-Sozialforscher George L. Kelling und James W. Wilson schreiben: "Ein Grundstück ist verlassen. Unkraut wächst. Eine Scheibe wird eingeschlagen. Erwachsene schelten lärmende Kinder nicht mehr. Die Kinder werden, dadurch ermutigt, rebellischer. Familien ziehen aus, ungebundene Erwachsene ziehen ein. Jugendliche treffen sich vor dem Laden an der Ecke. Der Ladenbesitzer fordert sie auf wegzugehen. Sie weigern sich. Es kommt zu Auseinandersetzungen. Der Müll häuft sich. Die Leute beginnen vor dem Laden zu trinken. Dann stürzt ein Betrunkener, darf liegenbleiben, seinen Rausch ausschlafen. Fußgänger werden von Bettlern angesprochen. Noch ist es vermeidbar, daß Kriminalität entsteht. Aber viele Einwohner werden glauben, daß die Kriminalität ansteigt. Abgewandte Augen, verschlossene Lippen, schnelle Schritte. Kein Interesse mehr am Viertel, kein "Zuhause" mehr: Nachbarschaft hört auf zu existieren. Ein derartiges Gebiet ist sehr anfällig für die Entstehung von Kriminalität." Deshalb werden Bagatellvergehen besonders vehement verfolgt, die Kriminalität soll von unten her ausgetrocknet werden. Mit der intensiven Bekämpfung der Kleinkriminalität soll der schweren Kriminalität der Nährboden entzogen werden. Wer etwa bei Farbschmierereien bereits gründlich abgestraft wurde, der entwickelt sich auch nicht zum Serienmörder, so die simple Losung. Ein Klima von Recht und Ordnung soll an die Stelle des Geruchs von Gewalt und Gesetzlosigkeit treten. Mit der Pflege des öffentlichen Raums will man erreichen, daß sich die Bürger mit ihrer Lebensumwelt identifizieren. Überdies soll soziale Kontrolle Straftaten verhindern helfen.