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| Impressum 18. Juli 1996, von Michael Schöfer Die Sozialstaatslüge Der Sozialstaat in der Bundesrepublik sei inzwischen unbezahlbar und gerate daher in eine existentielle Krise. So tönt es uns landauf und landab entgegen. Die Unternehmen klagen heftig über zu hohe Kosten und verlagern die Produktion ins preisgünstigere Ausland. Die Markt- und Freihandelsideologen (ökonomische Fundamentalisten) kommen ihnen mit der Forderung nach einem "Umbau des Sozialstaats" zu Hilfe. Standortdebatte ohne Ende. Wie steht es in Wahrheit um unseren Sozialstaat? Sind seine Kosten wirklich so immens, daß man in Bälde mit dem Zusammenbruch des Sozialsystems rechnen kann? Ist buchstäblich kein Geld mehr zu seiner Finanzierung vorhanden? Ist der Sozialbereich in den letzten 10 Jahren überproportional angewachsen, so daß er schließlich nicht mehr zu finanzieren ist? Diesen Fragen möchte ich anhand einiger Fakten nachgehen. In Westdeutschland wurden 1994 insgesamt 900 Mrd. DM an Sozialleistungen ausgezahlt, gesamtdeutsch waren es sogar 1.106 Mrd. DM. Der Maßstab der aussagt, wie hoch Sozialleistungen eine Volkswirtschaft belasten, ist die Sozialleistungsquote (Verhältnis von Sozialleistungen zum Bruttosozialprodukt). Sie ist von verschiedenen Variablen abhängig (Wirtschaftswachstum, Höhe der Zahlungen, Anzahl der Sozialsysteme bzw. Leistungsempfänger etc.). Der Tabelle können wir die langfristige Entwicklung der Sozialleistungsquote in Westdeutschland entnehmen.
Insgesamt gesehen liegt die Sozialleistungsquote momentan im üblichen Durchschnitt. Und das ist im Grunde genommen überraschend, denn heute gibt es wesentlich mehr Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger als 1982. Heute müssen sich folglich eine größere Anzahl von Leistungsempfängern den (prozentual) praktisch gleich gebliebenen Anteil am BSP teilen. Klarer kann Sozialabbau nicht zum Ausdruck kommen. Langfristig gesehen ist der allgemeine Trend (jobless growth, working poor, forcierte Rationalisierung, Globalisierung der Märkte, hohe Staatsverschuldung etc.) natürlich äußerst schädlich. Das Problem ist daher nicht die absolute Höhe der Sozialleistungen, sondern vielmehr deren Finanzierung durch die Beitragszahler. Letztere nehmen kontinuierlich ab, haben aber einen wachsenden Anteil von Leistungsempfängern zu unterhalten. Für den einzelnen steigt die Abgabenbelastung somit an die Grenze des Erträglichen. Da unser Sozialsystem von der Finanzierungsseite her hauptsächlich an das Erwerbseinkommen der vollzeitbeschäftigten Arbeiter und Angestellten (Pflichtbeitragszahler zur Sozialversicherung) gekoppelt ist, deren Belastung aber kaum noch gesteigert werden kann, gerät die materielle Grundlage des Sozialstaats hierdurch zweifellos ins Wanken. Fazit: Der Anteil der Sozialleistungen am Bruttosozialprodukt ist - trotz Zuwachs der Leistungsempfänger - nicht überproportional gestiegen. Es gibt folglich keinen vernünftigen Grund für massiven Sozialabbau. Der Sozialstaat ist weiterhin finanzierbar. Es ist trotz allem dringender Handlungsbedarf vorhanden. Ein Beispiel: Schätzungen über das Ausmaß der Steuerhinterziehung in der Bundesrepublik belaufen sich auf 100 bis 150 Mrd. DM pro Jahr (!). Ohne ein einziges Leistungsgesetz zu ändern könnte man - bei Eintreibung dieser Summen - nicht nur neue Schulden vermeiden (Neuverschuldung des Staates 1994 insgesamt 82 Mrd. DM), sondern alte endlich tilgen. Unser Gemeinwesen kann es sich nicht erlauben, den sozialen Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält, nach und nach auf dem Altar der neoliberalen Fundamentalisten zu opfern. Jedem weiteren Sozialabbau muß deshalb eine konsequente Absage erteilt werden. Denn dieser Staat wird sozial sein oder undemokratisch. |