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12. Februar 1996, von Michael Schöfer
Plädoyer für eine Steuerfinanzierung des Sozialsystems


1994 lag das reale Bruttosozialprodukt (BSP) Gesamtdeutschlands 2,2 % (62,3 Mrd. DM) über dem von 1991, dennoch wurden im gleichen Zeitraum 5,9 % (1,8 Mio.) weniger erwerbstätige Arbeiter und Angestellte registriert (als erwerbstätig gelten alle Personen, die eine haupt- oder nebenberufliche Erwerbstätigkeit ausüben). Obgleich die genauen Daten für 1995 noch nicht veröffentlicht wurden, besteht kein Zweifel, daß sich der negative Trend auch im vergangenen Jahr fortgesetzt hat. Ergo hat ein Mehr an Wirtschaftswachstum nicht unbedingt ein entsprechendes Mehr an Beschäftigung zur Folge. Im Gegenteil: Das stetig wachsende Sozialprodukt wird mit Hilfe von immer weniger Menschen erwirtschaftet (jobless growth), mit den bekannten Folgen für das Netz der sozialen Sicherung.

Trotzdem war 1994 der Anteil der Sozialleistungen am BSP mit 33,6 % nur um 0,3 % höher als 1982, dem Beginn der Ära Kohl (bezogen auf Westdeutschland war er sogar 2,7 % niedriger). Das Problem ist daher nicht die absolute Höhe der Sozialleistungen, sondern vielmehr deren Finanzierung durch die Beitragszahler. Letztere nehmen kontinuierlich ab, haben aber einen wachsenden Anteil von Leistungsempfängern zu unterhalten. Für den einzelnen steigt die Abgabenbelastung somit an die Grenze des Erträglichen. Da unser Sozialsystem von der Finanzierungsseite her hauptsächlich an das Erwerbseinkommen der vollzeitbeschäftigten Arbeiter und Angestellten (Pflichtbeitragszahler zur Sozialversicherung) gekoppelt ist, deren Belastung aber kaum noch gesteigert werden kann, gerät die materielle Grundlage des Sozialstaats zweifellos ins Wanken.

Nun kann man der Misere auf dreierlei Art entgegentreten:
  • Forciertes Wirtschaftswachstum: Eine Steigerung des Wirtschaftswachstums in beschäftigungswirksamen Größenordnungen ist aus heutiger Sicht völlig illusorisch (ökologische Grenzen des Wachstums, begrenzte Aufnahmekraft des Marktes), die Hoffnung auf eine spürbare Erhöhung der Erwerbstätigkeit ist mithin auf diesem Weg kaum zu erreichen. Im Gegenteil, die Produktivität schreitet schier unaufhaltsam voran. So haben Studien den Wegfall von 30 % der Arbeitsplätze in Verwaltungen prognostiziert, und allein die elektronische Unterschrift und der elektronische Austausch von Dokumenten kann im Dienstleistungsbereich 250.000 Angestellte überflüssig machen. Es ist realistisch gesehen also eher mit weiter sinkenden Beschäftigtenzahlen zu rechnen. Das Ziel der Vollbeschäftigung existiert - wenn überhaupt - nur noch in Parteiprogrammen, daß wir sie je wiedererlangen, daran glaubt in Wahrheit niemand.
  • Leistungsreduzierungen: Die Bundesregierung hat die Sozialleistungen seit 1982 sukzessive abgebaut. Erheblich mehr Leistungsempfänger müssen sich einen praktisch gleich gebliebenen (bezogen auf Westdeutschland sogar geringeren) Anteil am BSP teilen - der eindeutige Beweis für massiven Sozialabbau. Unter dem Deckmantel mangelnder Konkurrenzfähigkeit werden indes weiterhin Sozialleistungen gekappt, und so entfernen wir uns immer weiter vom Ziel einer solidarischen Gesellschaft. Die gnadenlose Konkurrenzgesellschaft, in der es nur noch darum geht, sich als Individuum bei den Gewinnern und nicht bei den Verlierern wiederzufinden, scheint zu obsiegen. Wann und auf welchem sozialen Niveau das endet, ist vorerst völlig ungewiß. Es drohen soziale Verwerfungen, die alles bisher nach dem II. Weltkrieg Dagewesene in den Schatten stellen. Ob unsere Demokratie unter diesen Bedingungen fortbestehen kann, ist äußerst fraglich.
  • Erhöhung der Beitragssätze: Schon der demographische Aufbau der Bevölkerung läßt für die Finanzierungsbasis der Rentenversicherung nichts Gutes erwarten. Kamen 1988 auf 100 Beitragszahler 49 Rentner, sind es im Jahr 2040 voraussichtlich 123. Der Beitragssatz zur Rentenversicherung beträgt heute (Anfang 1996) aber bereits 19,2 %, ein Anstieg weit über die 20-Prozent-Marke hinaus ist den Beitragszahlern wohl kaum zuzumuten, obgleich er durchaus notwendig wäre. Weil man nicht auf eine deutliche Verbesserung der Einnahmesituation hoffen darf (mehr Beschäftigung, weniger Arbeitslosigkeit), befindet man sich fraglos in einem riesigen Dilemma.
Alle genannten Lösungen erscheinen also aus heutiger Sicht weder praktikabel noch wünschenswert. Fassen wir zusammen:
  • Das Sozialsystem ist hauptsächlich an das Einkommen der Vollzeiterwerbstätigen gekoppelt, deren Anteil wird aber aller Voraussicht nach weiter sinken.
  • Geld ist in unserer Gesellschaft (volkswirtschaftlich gesehen) genug vorhanden. Auch mit reduziertem Erwerbstätigenbestand wird das Bruttosozialprodukt weiter ansteigen.
  • Die Abgabenlast der unselbständig Beschäftigten droht überhand zu nehmen, eine Entlastung ist dringend geboten.
  •  Weiterer Sozialabbau gefährdet den gesellschaftlichen Konsens.
Was könnte helfen? Beispielsweise die Einbeziehung von Selbständigen und Beamten in die Sozialversicherung, weil sich damit die Finanzierungsbasis der Sozialversicherung beträchtlich erweitert. So zahlen etwa die 2,5 Mio. Beamten in Deutschland keinerlei Beiträge zur Rentenversicherung. Ihre Pensionen werden durch die öffentlichen Haushalte (also durch Steuergelder) finanziert. Eine fiskalische Zeitbombe, denn beim Bund werden die Pensionen nach Schätzung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) von jetzt 35 Mrd. auf 165 Mrd. DM (+371 %) im Jahr 2030 explodieren. Die Mehrheit der Steuerzahler muß folglich über Rentenversicherungsbeiträge die eigene Altersversorgung, und zusätzlich über Steuergelder die der Beamten gewährleisten. Ein auf Dauer absolut unhaltbarer Zustand.

Auf lange Sicht ist freilich auch das nicht ausreichend, weil die Erwerbstätigkeit in Zukunft weiter abnehmen wird. Was wir also benötigen, ist - neben Ökosteuer und Grundeinkommen - die weitgehende Steuerfinanzierung unseres gesamten Sozialsystems. Wenn unsere Gesellschaft immer mehr Geld mit immer weniger Menschen erwirtschaftet, kann und darf das System der sozialen Sicherung nicht länger vom Erwerbseinkommen der unselbständig Beschäftigten abhängig sein. Es kommt vielmehr darauf an, das unzweifelhaft reichlich vorhandene Volkseinkommen entsprechend zu verteilen, d.h. ohne Koppelung an eine tendenziell abnehmende Erwerbstätigkeit. Das ungemein komplizierte und damit unübersichtlich gewordene deutsche Steuerrecht benötigt ohnehin eine grundlegende Reform. Diese sollte dann ökologische Gesichtspunkte ebenso beinhalten wie die Aufrechterhaltung des Sozialstaats, die Erhöhung der Steuergerechtigkeit sowie eine drastische Vereinfachung. Im vorliegenden Kontext kommt es aber lediglich darauf an, daß grundsätzlich alle Einkommen zur Aufrechterhaltung des Sozialstaats herangezogen werden (unabhängig davon, ob es jeweils mit viel oder wenig Arbeitsplätzen erwirtschaftet wird).

Fazit:
  • Eine Steuerfinanzierung des Sozialsystems verbessert dessen materielle Grundlage.
  • Arbeit wird von der Kostenseite her wieder attraktiver, ohne gleichzeitig das Einkommen der Beschäftigten zu reduzieren. Im Gegenteil, die Nettolöhne würden steigen, trotz Steuererhöhungen bleibt dann per Saldo beim einzelnen mehr Kaufkraft übrig.
  • Das Interesse der Unternehmer, über Entlassungen Kosten einzusparen, würde merklich reduziert.
  • Bei ausreichender Grundsicherung und gerechter Verteilung der vorhandenen Arbeit läßt dieses Modell drastische Arbeitszeitverkürzungen realisierbar erscheinen.
  • Die Kluft zwischen betriebs- und volkswirtschaftlichen Interessen würde kleiner.
Wenn Ideologien den Interessen des Gemeinwohls nachweislich widersprechen, kann man sie auf Dauer nicht aufrechterhalten, was uns der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus östlich der Elbe eigentlich hätte lehren müssen. Sie scheitern schließlich an der Akzeptanz bei der Bevölkerung, letztere läßt sich dann nur noch mit Gewalt erzwingen. In der Konsequenz bedeutet das aber das Ende jeder demokratischen Entwicklung in den westlichen Industriegesellschaften. Wer sich zum Neoliberalismus bekennt, hat folglich kein liberal-demokratisches Gesellschaftsmodell im Sinn, sondern ein repressives. Die selbsternannten Befürworter von radikaler ökonomischer Freiheit erweisen sich so in Wahrheit als zutiefst freiheitsfeindlich, sie sind das Trojanische Pferd im Haus der Demokratie.