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17. Februar 1999, von Michael Schöfer
Die Stoiberisierung unserer Republik

Es ist die Tragik Wolfgang Schäubles, immer nur als Kronprinz gehandelt zu werden. Vor der Bundestagswahl hatte der ewige Zweite ständig den schier allmächtigen CDU-Patriarch Helmut Kohl vor der Nase, dem der Spaß an der Macht selbst nach 16 Jahren Dauerregentschaft einfach nicht abhanden kommen wollte. Vom Chef zwar höchstselbst als Nachfolger auserkoren, machte ihm dann aber am 27. September der eigentliche Souverän dieser Republik, die Wählerinnen und Wähler, einen gehörigen Strich durch die Rechnung. Die Bundestagswahl endete für die Union in einem Desaster. Gleich danach durfte Schäuble endlich den lange ersehnten Parteivorsitz übernehmen, aber der Schock der Wahlniederlage saß viel zu tief. Jetzt wurde die politische Substanzlosigkeit der CDU/CSU offensichtlich. Schäuble mußte überdies feststellen, daß sich die Gewichte in der Union längst zur kleineren Schwesterpartei hin verschoben hatten. Der neue Boß der Union heißt ohne Zweifel Edmund Stoiber, der bayerische Ministerpräsident.

Gegenwärtig versucht der CSU-Vorsitzende, die Substanzlosigkeit der Konservativen mit dem Schüren von Emotionen zu kompensieren. Wie man in Hessen gesehen hat, nicht ohne Erfolg. Und Schäuble, dem ewigen Zweiten, bleibt gar nichts anderes übrig, als Stoiber auf dem populistischen Pfad hinterherzuhecheln. Geht es doch schon jetzt um die beste Ausgangsposition für die nächste Kanzlerkandidatenkür. Doch die infame Stimmungsmache gegen die Integration der ausländischen Mitbürger könnte sich in Zukunft als ausgesprochen kurzsichtig herausstellen. Der Beifall von Republikanern und DVU zeigt deutlich, wohin die Reise gehen kann. Richard von Weizsäcker, der vor der populistischen Unterschriftensammlung mit dem Satz "Die Materie ist für plebiszitär eingesammelte Unterschriften viel zu komplex" eindringlich gewarnt hat, kann sich mit solch vernünftigen Positionen in seiner Partei keine Aufmerksamkeit mehr verschaffen. Die politische Vernunft ist in der Union längst dem Appellieren an die niederen Instinkte gewichen. Das wohlabgewogene Urteil gilt dort nichts, die Lufthoheit über den Stammtischen alles.

Wer behauptet, "die geplante doppelte Staatsbürgerschaft gefährde die Sicherheit in Deutschland stärker als der Terrorismus der Rote Armee Fraktion (RAF) in den 70er und 80er Jahren" (Edmund Stoiber im Focus), provozierend von "Zwangsgermanisierung" und verächtlich von "Teilzeitdeutschen" spricht (der ehemalige Berliner Innensenator Jörg Schönbohm), hämisch über "Einbürgerung zum Null-Tarif" (CDU-Politiker Rupert Scholz) oder "Staatsangehörigkeit zu Discount-Preisen" (CSU-Politiker Michael Glos) faselt, schürt ausländerfeindliche Ressentiments und leistet dem Fremdenhaß in Deutschland Vorschub. Als ob es Mölln und Solingen überhaupt nicht gegeben hätte. "Diese Taktik ist dumm und gefährlich", meint dazu die sonst eher konservativ ausgerichtete Londoner Times.

Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Man darf natürlich etwas gegen die doppelte Staatsbürgerschaft haben, ohne damit gleichzeitig als Ausländerfeind zu gelten. Wie in den meisten Fällen gibt es auch hier vernünftige Argumente dafür und dagegen. Es geht daher letztlich nicht um das Ob, sondern um das Wie. Aber der Union geht es im Grunde gar nicht um die doppelte Staatsangehörigkeit, denn diese wurde ja schon vor dem Regierungswechsel vom Staat quasi geduldet. Und sie hat sich in der Vergangenheit als völlig unproblematisch erwiesen (vgl. Beitrag "Fakten statt Vorurteile"). Unter der früheren konservativ-liberalen Regierung hätte man sie ansonsten mit Sicherheit aktiv bekämpft. Es geht der Union vielmehr um billige Polemik gegenüber einer Minderheit, auf deren Rücken man Wahlen zu gewinnen trachtet.

In den 16 Jahren der Regierung Kohl ist in puncto Integration von Ausländern vieles versäumt worden. Deshalb ist es extrem heuchlerisch, wenn die Union jetzt als frisch gebackene Oppositionspartei plötzlich ihr eigenes "Integrationskonzept" präsentiert. Doch nach wie vor ist sie nicht bereit, sich vom "ius sanguinis" (Blut- bzw. Abstammungsrecht) zugunsten des "ius soli" (Recht des Bodens bzw. Territorialitätsprinzip) zu verabschieden. So als ob es unveräußerliche schwarz-rot-goldene Blutkörperchen gäbe. Zwar soll es ihrem Konzept zufolge unter bestimmten Umständen für hier geborene Ausländerkinder eine sogenannte "Einbürgerungszusicherung" geben, freilich erlischt diese, wenn sie nicht spätestens mit Vollendung des 21. Lebensjahres in die deutsche Staatsangehörigkeit "umgewandelt" wird.

Hier auf die Welt gekommene Ausländerkinder sollen also nach dem Willen der Union zunächst Ausländer bleiben. Und: "Voraussetzung für die Einbürgerung bleibt aber wie bisher grundsätzlich der Verzicht auf die alte Staatsangehörigkeit." Das ist für die gerade aufwachsende Ausländergeneration keine attraktive Alternative - von den Erwachsenen ganz zu schweigen. Diese Regelung würde vielmehr den heutigen, unerträglichen Zustand zementieren. Es ist fürwahr widersinnig: Die Abkömmlinge der im 18. Jahrhundert nach Rußland emigrierten Deutschen gelten nach wie vor als Deutsche und haben keinerlei Probleme, bei Übersiedelung in die BRD die deutsche Staatsangehörigkeit zuerkannt zu bekommen. Hier geborene Türken zählt man indes weiterhin zu den Ausländern. Ich frage mich, wie lange noch. Bis man in dreißig, vierzig oder fünfzig Jahren endlich bereit ist, von dieser Absurdität Abstand zu nehmen? Oder soll es auf ewig so bleiben?

Was wollen die GRÜNEN? Wir wollen mit der Illusion, Deutschland sei kein Einwanderungsland, aufräumen. Die Annahme, die von uns früher angeworbenen "Gastarbeiter" würden nach getaner Arbeit wieder in ihre Heimatländer zurückkehren, war schon immer ein gigantischer Selbstbetrug. Auch wenn es abgedroschen klingt: Es kamen Menschen, nicht bloß Arbeitskräfte. Die meisten davon sind bereits seit längerer Zeit in der Bundesrepublik (vgl. Beitrag "Fakten statt Vorurteile"), und inzwischen wächst eine ganze Generation von hier Geborenen heran. Ohne Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts bleibt diesem Personenkreis die rechtliche Gleichstellung - und damit die Grundlage für eine gelungene Integration - auch künftig vorenthalten. Gewiß, echte (d.h. soziale) Integration ist mehr als nur gesetzlich verordnete Gleichberechtigung, aber ohne letztere ist sie kaum denkbar. Der juristischen wird unausbleiblich die soziale folgen. Oder spricht heute noch jemand über die im 19. Jahrhundert massenhaft ins Ruhrgebiet eingewanderten polnischen Bergarbeiter? Die Tolerierung von Doppelstaatsbürgerschaften ist hierbei - wenigstens vorübergehend - durchaus akzeptabel.

Es wäre fatal, sollte das neue Staatsbürgerschaftsrecht an der Engstirnigkeit der Union und der Profilierungssucht ihrer Spitzenpolitiker scheitern. Wer auf Kosten einer klar definierbaren Minderheit die Kanzlerschaft anstrebt und dabei auch vor der Dämonisierung derselben nicht zurückschreckt ("schlimmer als die RAF"), weckt - ausgerechnet hier in Deutschland - die schlimmsten Assoziationen. Wird man die Geister, die man rief, dereinst wieder los? Das ist in diesem Zusammenhang eine der entscheidenden Fragen. Die Stoiberisierung unserer Republik wird sich, etwa durch neue Anschläge auf Ausländer, noch bitter rächen. Und die wirkliche Tragik von Wolfgang Schäuble ist, solchen verhängnisvollen Bestrebungen keinen Widerstand entgegengesetzt zu haben.