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| Impressum 16. März 1997, von Michael Schöfer Totale Verwirrung Bundesarbeitsminister Blüm zufolge liegt Deutschland, was Tempo und Ausmaß des Sozialabbaus angeht, im Vergleich zu den wichtigsten europäischen Partnerländern an der Spitze. Westdeutschland, konstatierte der Herz-Jesu-Marxist kürzlich, weise in Europa nach Italien die zweitniedrigste Belastungsquote mit sozialen Leistungen auf. [1] Endlich hat er sich als Trojanisches Pferd im Hort der Neoliberalen geoutet. Anders ist es nicht zu erklären. Oder täusche ich mich? Wurde uns bislang nicht allenthalben suggeriert, der Sozialstaat habe überhandgenommen und sei deshalb schlechterdings unbezahlbar? Hat uns der Dicke nicht eindringlich empfohlen, den Gürtel zum Wohle des Standorts enger zu schnallen? Die Verwirrung ist riesig, was soll man glauben? Völlige Ratlosigkeit hinterläßt auch die Meldung, die CSU sei inzwischen überschuldet und damit praktisch pleite. [2] Waren es in der Vergangenheit doch ausschließlich Sozialdemokraten, die nicht mit Geld umgehen konnten. Und nun das. Ob es an Theo Waigel liegt? Immerhin verwaltet der CSU-Chef auch in Bonn lauter Finanzierungslöcher. Aber wahrscheinlich ist das Ganze bloß ein raffiniertes Ablenkungsmanöver der Bundesregierung. Ich muß zugeben, das ist gründlich gelungen. Sogar so gut, daß keiner weiß, wovon sie abzulenken wünscht. Vermutlich von der eigenen Verwirrung, was angesichts der komplexen ökonomischen Realität nicht weiter verwunderlich wäre. Sicher bin ich allerdings, wie ich freimütig bekenne, nicht. Nachzutragen wäre noch: "Wo Müll ist, sind Ratten. Und wo Verwahrlosung herrscht, ist Gesindel." Gesindel ist hier gleichzusetzen mit "kriminellem Abschaum", der "mit den Ausländern aus Rußland, Rumänien, Libanon, China und Vietnam" nach Berlin gekommen ist. Dieses Zitat ist - entgegen allgemeiner Annahme - keineswegs dem "Völkischen Beobachter" entnommen, sondern Originalton des CDU-Fraktionsvorsitzenden im Berliner Abgeordnetenhaus, Klaus Landowsky. [3] Gesprochen im Jahre des Herrn 1997. Und wenn ich Ihnen jetzt sage, daß die CDU in Berlin bei den letzten Wahlen nur 87 von insgesamt 206 Mandaten errungen hat, aber dennoch den Regierenden Bürgermeister stellt, fassen Sie sich möglicherweise an den Kopf. Womit auf jeden Fall eines bewiesen wäre: die Verwirrung in dieser Republik ist allumfassend. Wer mag vor diesem Hintergrund Peter Gauweiler verübeln, vorübergehend nicht gewußt zu haben, wo sich seine politische Heimat befindet? Keiner. Ausgenommen vielleicht ein gewisser Bill Gates, besser bekannt unter der Bezeichnung "Mr. Microsoft". Frühere Versionen des Textverarbeitungsprogramms "Word" haben nämlich beim Namen "Gauweiler" als Verbesserung den Begriff "Gauleiter" vorgeschlagen. Nach entsprechenden Protesten wurde das zwischenzeitlich mit erheblichem Aufwand korrigiert. Ob zu Unrecht, mag Billy Boy selbst entscheiden. Eine gewisse Verwirrung dürfte aber zumindest auch ihm nicht abzusprechen sein. ---------- [1] Frankfurter Rundschau vom 13.03.1997 [2] Frankfurter Rundschau vom 26.02.1997 [3] Frankfurter Rundschau vom 12.03.1997 |