Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



28. September 1993, von Michael Schöfer
Rot-Grün in Mannheim?


Es soll ja schon vorgekommen sein, daß Politiker glauben, was sie sagen. So hat kürzlich, unter dem Eindruck der für seine Partei verheerenden Niederlage bei den hessischen Kommunalwahlen, SPD-Ministerpräsident Eichel die "kleinen Leute" als Wählerreservoir wiederentdeckt. Die Konsequenz: ein mit SPD-Stimmen beschlossener Solidarpakt ohne Solidarität. Einer der maßgeblich Verantwortlichen: der designierte SPD-Vorsitzende Rudolf Scharping. Angeblich sei damit der von der Bundesregierung geplante Sozialabbau verhindert worden. Was wir täglich in der Presse lesen, spricht eine andere Sprache.

Es kommt noch besser: Der SPD-Haushaltsexperte, Rudi Walther, hat sich - wie vor ihm der frühere SPD-Vorsitzende Björn Engholm - "für Löhne unterhalb der in Tarifverträgen festgelegten Grenzen" ausgesprochen (Frankfurter Rundschau v. 02.06.1993). Dieser "zweite Arbeitsmarkt" bedeutet in Wahrheit einen beispiellosen Sozialabbau. Die Wirtschaft wird große Teile der Arbeitnehmerschaft, über den Abstecher Arbeitslosigkeit hinweg, tariflich herabstufen können. Leistung muß sich lohnen. Fragt sich nur, für wen. Für die Wirtschaft, wenn die SPD-Pläne Wirklichkeit werden, allemal. Die vorher Entlassenen stehen ihr dann, bei gleicher Leistung, zu geringeren Kosten wieder zur Verfügung. Schlau, nicht? Und der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Peter Struck, erklärte auch flugs die Bereitschaft der SPD, Kürzungen im Sozialbereich mitzutragen (Frankfurter Rundschau v. 03.06.1993).

Sieht so die Wiederentdeckung der "kleinen Leute" aus, und muß man die SPD an die Opfer unserer Ellenbogengesellschaft erinnern? Lag das bereinigte Verhältnis zwischen Arbeitseinkommen und Gewinnen 1980 nämlich noch bei 83,2 % zu 16,8 %, liegt es nun (1990) bei 75,2 % zu 24,8 %. Die Arbeitnehmer hatten also in der zurückliegenden Dekade erhebliche Einbußen ihres Anteils am Volkseinkommen hinzunehmen. 23 Prozent der Privathaushalte Westdeutschlands müssen monatlich mit weniger als 2.000 DM auskommen, weitere 23 Prozent verfügen nur über eine Summe zwischen 2.000 und 3.000 DM. 5,8 Prozent aller Haushalte, die Selbständigenhaushalte (außerhalb der Landwirtschaft), verfügen hingegen über ein monatliches Einkommen von durchschnittlich 14.787 DM. Demgegenüber muß sich ein Arbeitslosenhaushalt mit 2.238 DM begnügen, wovon die - in Gesamtdeutschland - 4,2 Mio. Sozialhilfeempfänger (1991) und 1 Mio. Obdachlose wiederum nur träumen können.

"Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt", wird uns nun allenthalben aus der konservativen Ecke vorgehalten. Und die SPD reiht sich, wie beim Asylbeschluß, willig ein. Man ahnt schon, wie das endet. Dem Erhalt des Asylrechts (mittels faktischer Abschaffung) folgt die Rettung des Sozialstaats (durch dessen Demontage) auf dem Fuße. Fragen müßte man vielmehr: Wer hat über seine Verhältnisse gelebt? Geringverdienende, Sozialhilfeempfänger, Arbeits- und Obdachlose gewiß nicht. Diese Gesellschaft wird zahlen, so oder so. Entweder in Form größerer Verteilungsgerechtigkeit, also Umverteilung von oben nach unten, oder in Form sozialer Destabilisierung, höherer Kriminalität und politischer Radikalisierung.

Nun, endlich, zum eigentlichen Thema. Ich fasse mich möglichst kurz. Wer sich der SPD auf dem Weg über eine bessere Umwelt- und Friedenspolitik nähern möchte, wird enttäuscht (Beispiele dafür gibt es zuhauf). Wer zudem glaubt, mit der SPD könne man soziale Wirtschaftspolitik verwirklichen, irrt (siehe oben). Wer vermutet, mit der SPD könne Moral in die Politik einfließen, frage nach der deutsch-chinesischen Wirtschaftsförderung des baden-württembergischen SPD-Wirtschaftsministers Spöri oder nach den offensichtlich allzu engen Kontakten des Ex-Juso-Vorsitzenden Schröder (heute Ministerpräsident in Niedersachsen) zur Rüstungslobby. Und wer eine andere kommunale Verkehrspolitik wünscht, wende sich bitte vertrauensvoll an die Mannheimer SPD.

Um nicht mißverstanden zu werden, Rot-Grün ist besser als Schwarz-Gelb, und wenn man kann, sollte man koalieren. Natürlich nur zu den entsprechenden Konditionen. Probleme erwarte ich vor allem seitens der SPD, da sie ihre Vorliebe für Schwarz-Rot nur schlecht verbergen kann und in bezug auf Wahlversprechen erfahrungsgemäß über ein außerordentlich kurzes Gedächtnis verfügt. Tränenreich den "kleinen Mann" entdecken, gleichwohl Politik machen für die Großen, das paßt nicht zusammen. Rhetorik allein genügt nicht, es müssen auch Taten folgen. Und spätestens hier trennt sich die Spreu vom Weizen. Wie lange soll man eigentlich auf eine Kursänderung des SPD-Tankers warten? Bis alle Matrosen (Hoffnungsträger) zum Offizier befördert worden sind, nur um anschließend festzustellen, daß sich hierdurch in Wirklichkeit gar nichts ändert?

Bedauerlicherweise verlaufen in der SPD die Karrieren oft von links unten nach rechts oben. Ob das so auch bei Peter Kurz zutrifft, kann ich nicht mit letzter Sicherheit beurteilen. Aber sein Vorhaben, mit dem (wie er sich geäußert hat) "vernünftigen Teil der CDU" das Asylrecht zu ändern, ging, gemessen am Ergebnis, gewaltig in die Hose. Ich hoffe, dem lag lediglich eine Fehleinschätzung zugrunde. Wenn nicht, habe ich keinerlei Hoffnung für Rot-Grün in Mannheim.