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22. Juni 1988, von Michael Schöfer
Der Zeit- und Geldfaktor


Das Leben des Menschen wird u.a. durch zwei gegensätzliche Faktoren beeinflußt: durch den Zeit- und Geldfaktor. Der Mensch muß sich (in der Regel) bei der Einrichtung seines Lebens für einen von beiden entscheiden. Er lebt nämlich in allen Industriegesellschaften in einer Situation, die es ihm nicht gestattet ohne Arbeit (= Geld) zu existieren. Folglich ist er gezwungen, Zeit in Arbeit zu investieren, um ein bestimmtes Maß an Geld zu bekommen. Ohne Zeiteinsatz kann er nicht arbeiten, ohne Arbeit bekommt er kein Geld, und ohne Geld ist ihm eine menschenwürdige Existenz nicht möglich. Die in jeder Gesellschaft vorhandenen Extreme, der Millionär (der genug hat, um nicht mehr arbeiten zu müssen) und der Sozialhilfeempfänger, sind Ausnahmen. Keine Gesellschaft könnte überleben, wenn die überwiegende Mehrheit entweder aus nichtarbeitenden Millionären oder aus Sozialhilfeempfängern bestünde. Auch der Millionär ist davon abhängig, daß die Bevölkerungsmehrheit arbeitet und die Waren herstellt, die er konsumiert. Und bezüglich des Sozialhilfeempfängers ist die Abhängigkeit offensichtlich. Das, was er von der Gesellschaft zur Verfügung gestellt bekommt, muß ja zwangsläufig erst einmal von dieser Mehrheit erwirtschaftet werden. Somit kann man diese extremen (und für die Bevölkerungsmehrheit entweder nie zu erreichenden oder nicht akzeptablen) Lebenssituationen zu Recht vernachlässigen. In der Regel muß der Mensch arbeiten, arbeiten um zu existieren. Er hat einfach keine andere Wahl.

Was der Mensch als Individuum entscheiden kann, ist das Gewicht der beiden Faktoren. Er kann entscheiden, ob er sein Leben mehr nach dem Geld- oder mehr nach dem Zeitfaktor ausrichtet. Er kann entscheiden, ob ihm Geld oder Zeit das Wichtigste ist und ob er auf eines von beiden teilweise verzichtet. Was will der Mensch, mehr Geld oder Zeit? Das ist die eigentliche Frage. Und Maßstab für die Entscheidung sind seine Bedürfnisse, danach muß er entscheiden. Wie sind diese besser zu befriedigen, mit mehr Geld oder mehr Zeit? Meist ist die Antwort schon die Scheidelinie zwischen materiellen und immateriellen Bedürfnissen. Sucht der Mensch sein Glück in der Anhäufung materieller Güter, so muß er Zeit in Arbeit investieren. Das Maß der materiellen Bedürfnisse bestimmt das Maß des Zeiteinsatzes. Je mehr Bedürfnisse zu befriedigen sind, desto mehr Zeit muß der Mensch zu deren Befriedigung einsetzen. Und da er meist mehr haben will als seine Mitmenschen, muß er in der Regel auch mehr Zeit investieren als der Durchschnittsarbeitnehmer. Mit einem Acht-Stunden-Arbeitstag läßt sich das nicht erreichen, weil er sich darin ja nicht positiv (in den Augen des Arbeitgebers) von seinen Arbeitskollegen abhebt. Will man mehr verdienen, muß der Zeiteinsatz entsprechend anwachsen. Zeit wird dann in Fortbildung oder eine längere Arbeitszeit im Betrieb investiert. Nur derjenige, der mehr Einsatz zeigt, darf sich auch für später ein (gegenüber seinem Mitmenschen) höheres Einkommen versprechen. Ohne Mehreinsatz kein Mehrverdienst.

Der auf berufliches Fortkommen ausgerichtete Zeiteinsatz fehlt aber dann logischerweise für persönliche, private Zwecke. Das Familienleben eines Karrieremenschen kommt zwangsläufig zu kurz, er hat auch weniger Zeit, um beispielsweise gute (berufsfremde) Bücher zu lesen. Seine geistigen und körperlichen Ressourcen verbraucht er nicht zur Fortentwicklung seiner Persönlichkeit, sondern zum Anhäufen materieller Güter. Die Quantität der Dinge, die er sich leisten kann, wird Maßstab seiner Stellung in der Gesellschaft, denn unsere materiell ausgerichtete Gesellschaft beurteilt die Menschen vor allem nach ihrem Besitz oder der Höhe ihres Bankkontos. Statussymbole dokumentieren nach außen hin, welche Stellung in der Gesellschaft erreicht wurde. Nicht die materiellen Güter als solche (nach ihrem Gebrauchswert) werden angestrebt, sondern deren gesellschaftlicher Wert als Statussymbol. Sie werden hauptsächlich dazu benutzt, sich vom Mitmenschen abzuheben. Wie anders ist es zu erklären, daß eine reale Erhöhung des Lebensstandards allein nicht schon ein Mehr an Befriedigung verschafft? Eine Erhöhung verschafft vor allem dann Befriedigung, wenn die persönliche Steigerungsrate höher ist als bei den Mitmenschen. Könnten sich beispielsweise alle einen Mercedes leisten, würde das Fahrzeug seinen Wert als Statussymbol verlieren, dann würden sich die Menschen ein anderes Statussymbol suchen. So schaukelt man sich gegenseitig hoch, denn in den heutigen Industriegesellschaften ist es vielen Menschen möglich, sich früher unerreichbare Güter zu kaufen. Es wird folglich immer teurer, sich vom Mitmenschen zu unterscheiden, zumindest dann, wenn man die Unterschiede vom Besitz materieller Güter abhängig macht, denn es werden hierfür immer ausgefallenere Güter notwendig. Was sich nicht jeder leisten kann, wird angestrebt, obwohl preiswertere Produkte oft die gleiche Funktion erfüllen. Nehmen wir beispielsweise Uhren. Eine Rolex-Uhr ist besonders begehrt, weil sich nicht jeder eine echte Rolex leisten kann. Eine Quarzuhr für 50,- DM erfüllt aber den Zweck, nämlich die genaue Messung der Zeit, sicherlich genauso gut. Es kommt eben nicht auf die Ganggenauigkeit (also den eigentlichen Zweck einer Uhr) an, sondern auf das Prestige, das die Rolex-Uhr dem Träger verschafft. Man zeigt damit, was man sich leisten kann und welche Anerkennung einem deswegen zusteht. Die Gesellschaft gewährt diese Anerkennung. Und weil das Ego der meisten Menschen Anerkennung benötigt, diese in unserer Gesellschaft aber hauptsächlich durch die Anhäufung von Statussymbolen zu erreichen ist, setzen sie ihre Zeit vor allem in Richtung berufliches (und damit finanzielles) Fortkommen ein.

Glücklicherweise gibt es auch Menschen, denen materielle Dinge weniger wichtig sind, deren Selbstbewußtsein nicht auf den Besitz von Statussymbolen angewiesen ist. Doch kommt jemand seinem Interesse für Musik, Kunst, Philosophie, Geschichte oder Politik nach - alles aus beruflicher Sicht (in der Regel) unergiebige Interessensfelder - hindert ihn das auch am beruflichen Fortkommen. Man kann eben nicht gleichzeitig Philosophie- und berufliche Fortbildungskurse belegen. Man kann nicht an zwei Orten zugleich sein. Und der Tag hat für uns alle nur 24 Stunden. Aber die an materiellen Dingen weniger orientierten Menschen nehmen es in Kauf, daß sie wegen ihren Interessen weniger besitzen als die anderen. Ihr Maßstab ist die persönliche Fortentwicklung, ihnen gilt die Befriedigung ihres Wissensdurstes mehr als das teure Auto vor der Haustür. Sie beschränken demzufolge ihren beruflichen Ehrgeiz, außer wenn sie in der glücklichen Situation sind, ihr Hobby zum Beruf machen zu können. Für die Mehrheit ist jedoch die Deckungsgleichheit von Beruf und privaten Interessen nicht herzustellen. Die Mehrheit muß mit entfremdender beruflicher Tätigkeit leben, da die Arbeitsplatzauswahl für weniger entfremdende Tätigkeiten relativ beschränkt ist.

Natürlich muß ein Mindestmaß an materiellen Gütern auch von den am Immateriellen orientierten Menschen erarbeitet werden. Ohne Wohnung, ohne Geld für Nahrungsmittel und Kleidung kann in den Industriestaaten kein Mensch existieren. Ein gewisses Mindestmaß muß auch deswegen gedeckt sein, damit man sich - losgelöst von den materiellen Sorgen um die eigene Existenz - mit Philosophie beschäftigen kann. Die existentiellen Probleme überlagern dann alles andere. Beseitigung von Not ist die Grundvoraussetzung für die Beschäftigung mit immateriellen Werten! Das läßt sich aber schon mit einem durchschnittlich bezahlten Achtstundentag erreichen. Bei relativ bescheidenem Lebenswandel hat man dann schon mehr als zum bloßen Überleben notwendig ist. Und wer recht bescheiden ist, dem reicht manchmal schon ein Halbtagsjob. Es gibt Menschen, die aus diesen Gründen ganz bewußt aufs Auto verzichten. Der geringe Verdienst, das geringere Maß an materiellen Gütern, wird mit einem Mehr an Zeit für rein persönliche Bedürfnisse kompensiert. Für das Lesen braucht man beispielsweise vor allem Zeit, die Bücher selbst sind vergleichsweise billig oder können gar völlig kostenlos ausgeliehen werden.

Wie gesagt, das Maß an Geld, das ein Individuum benötigt, richtet sich nach seinen Bedürfnissen. Woran sich der Mensch orientiert, wie auch immer er sich festlegen mag, er muß sich entscheiden - zwischen dem Geld- und dem Zeitfaktor.