Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



30. Oktober 2004, von Michael Schöfer
Millionäre für Schröder


Der Aufruf "Auch wir sind das Volk" vom 1. Oktober 2004 (siehe Anhang 1) hält die beschlossenen Gesetze zur Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe auf dem Niveau von letzterem für "überlebensnotwendig für den Standort Deutschland". Darüber kann man freilich heftig streiten, genauso wie über die Aussage, daß jetzt nur noch ein "radikaler Kurswechsel" hilft. Die, die etwas gegen Gerhard Schröders Politik haben, sind allerdings - zumindest den Unterzeichnern des Aufrufs zufolge - nichts anderes als "Demagogen" und "Populisten", die "die Sorgen der Betroffenen bloß für ihre Zwecke ausbeuten".

Natürlich werden die armen Betroffenen nicht von Hartz IV und dem darin enthaltenen Niedriglohnkonzept (Ein-Euro-Jobs) ausgebeutet, sondern ausschließlich von den bösen Montagsdemonstranten, die betonen: "Weg mit Hartz IV, das Volk sind wir." Die Rezepte der Kundgebungsteilnehmer seien darüber hinaus "so simpel, wie ihre Motive durchsichtig". Dagegen ist der von Rot-Grün und Schwarz-Geld betriebene Sozialabbau und der anhaltende Arbeitsplatzabbau der Unternehmen ein geradezu komplexes und schier unergründliches Handeln (Achtung: Ironie).

Es freut mich riesig, wenn die notleidenden Betroffenen von so honorigen Mitgliedern der Gesellschaft unterstützt werden, wie beispielsweise einem gewissen Dr. Michael Rogowski, seines Zeichens Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). Mithin von einem Herrn, der - abgesehen von seinem unermüdlichen Einsatz für die Ärmsten der Armen - die betriebliche Mitbestimmung als "Irrtum der Geschichte" bezeichnet und konsequenterweise die Unternehmen von der Last der Sozialversicherung völlig befreien möchte. Bismarck (1815-1898) war im Vergleich zu Rogowski geradezu fortschrittlich. Zurück ins 19. Jahrhundert - ist es das, was die Unterzeichner fordern?

Den Aufruf haben zudem so bekannte Habenichtse wie der Sänger Marius Müller-Westernhagen, der Unternehmensberater Roland Berger oder Porsche-Chef Wendelin Wiedeking unterschrieben. Wie ohnehin auffällt, daß insbesondere Gutbetuchte den von Gerhard Schröder betriebenen Sozialabbau überaus sexy finden. Menschen also, die vermutlich niemals von den Auswirkungen der Hartz-Gesetze betroffen sein werden. Von anderen Verzicht fordern, ist billig. Können sich Menschen, bei denen das Arbeitslosengeld II (monatlich 345 Euro) nicht einmal für die Begleichung der Heizkosten ihrer Villen ausreichen würde, überhaupt in die Lage der von Hartz IV Betroffenen hineinversetzen? Ich fürchte nicht.

Doch diese Haltung scheint momentan unverkennbar zeitgemäß zu sein. Im altehrwürdigen "Presseclub" (ARD, sonntags 12 Uhr), früher durch die Darbietung divergierender Meinungen noch relativ ausgewogen, darf etwa Prof. Meinhard Miegel unwidersprochen kundtun, daß sich die Menschen hierzulande auf eine Lohnsenkung von 25 Prozent gefaßt machen müßten. [1] Keiner der anwesenden Journalisten fragt nach, was das für den hiesigen Binnenmarkt und dessen Kaufkraft bedeuten würde. Dieser Vorgang ist bezeichnend für das erschreckend schwache Niveau der ökonomischen Diskussion. Da wird von gutbetuchten Redakteuren und einem bestens abgesicherten Professor dreist behauptet, die Menschen hätten die Konsequenzen von Hartz IV eben nicht richtig begriffen. Das Programm als solches sei jedoch ohne Alternative, verkünden alle gemeinsam. Aber die Menschen haben sehr wohl begriffen, was da läuft, deshalb protestieren sie ja.

Literaturnobelpreisträger Günter Grass darf natürlich in dieser Aufzählung ebenfalls nicht fehlen, denn Günter Grass unterschreibt augenscheinlich alles, was ihm vor die Nase gehalten wird. Noch im Mai letzten Jahres hat er in einem Appell an Regierungschef Gerhard Schröder öffentlich dazu aufgefordert, "die Kritik an der Reform-Agenda 2010 ernst zu nehmen". Der Bundeskanzler täte gut daran, die Kritik aus den eigenen Reihen an den Reformplänen "nicht als Anschlag auf die Regierungsfähigkeit zu sehen, sondern als den Versuch, den notwendigen Reformprozeß so zu gestalten, daß er von der Mehrheit der Menschen mitgetragen und damit erfolgreich sein kann", hieß es seinerzeit in dem von Grass unterschriebenen Aufruf.

"Es ist sozial ungerecht und zudem volkswirtschaftlich unklug, die Besitzer großer Vermögen und die Bezieher hoher Einkommen zu schonen und nur bei den Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern die Bezüge zu kürzen." [2] (siehe Anhang 2) Wie wahr. Bloß blöd, daß der jetzige Aufruf dem damaligen vom Inhalt her total widerspricht. Welche Aussage darf man nun für bare Münze halten? Hat sich seine Meinung innerhalb von anderthalb Jahren wirklich so radikal geändert?

Machen wir uns nichts vor: Der Beifall von falschen Freunden ist kennzeichnend dafür, daß mit der gegenwärtig praktizierten Politik irgend etwas nicht in Ordnung ist. Die SPD sollte aus diesem Grund gut überlegen, ob sie auf diese Weise dauerhaft an der Macht bleiben wird. Die Zweifel daran sind nicht unberechtigt. Wenn eine Arbeitnehmerpartei zur Durchsetzung ihrer Politik auf die propagandistische Unterstützung von Millionären angewiesen ist, kann es mit der Vertretung von Arbeitnehmerinteressen nicht weit her sein. Und da Millionäre in unserer Gesellschaft bekanntlich in der Minderheit sind, wird sich das womöglich bitter rächen.

----------

[1] Sendung vom 19.09.2004, "Der große Zweifel an der Politik"
[2] Verdi


Anhang 1:

Auch wir sind das Volk

Die unter dem Angst machenden und abschreckenden Schlagwort Hartz IV beschlossenen Änderungen in der Arbeitslosen- und Sozialhilfe sind überlebensnotwendig für den Standort Deutschland. Der ist gepflastert mit den Grabsteinen verblichener Chancen. Totengräber sind in allen Parteien zu Hause. In der Vergangenheit haben alle Regierungen dem Wähler versprochen, was nicht zu halten war.

Umso schmerzlicher ist jetzt die Stunde der Wahrheit. Jetzt hilft nur noch ein radikaler Kurswechsel. Solche Einschnitte tun weh wie alle schweren Operationen, aber aus Furcht vor Schmerzen nichts zu tun, wäre verantwortungslos.

Nur Demagogen, die ihre Zukunft hinter sich haben, reden dem Volk nach dem Maul. Ihre Rezepte sind so simpel, wie ihre Motive durchsichtig.

Deshalb unterstützen wir Bundeskanzler Gerhard Schröder - ungeachtet aller unserer sonstigen politischen Präferenzen - in einer großen Koalition der Vernunft. Wir hoffen, dass er den Parolen der Populisten von links und rechts, die gnadenlos die Sorgen der Betroffenen für ihre Zwecke ausbeuten, Stand hält.

Wir, die Initiatoren dieser Anzeige, wählten und wählen ganz unterschiedliche Parteien. Wir arbeiten in diesem Land, wir bezahlen unsere Steuern in diesem Land, wir bekennen uns zu diesem Land. Wir haben das Jammern über Deutschland satt.

Wer mutig ändert, was geändert werden muss, hat uns auf seiner Seite.

Anhang 2:

Künstler fordern Schröder zu Kompromissen bei Agenda 2010 auf

Berlin, 19. Mai 2003 (dpa) - Hunderte Schriftsteller und Künstler wie Günter Grass und Daniela Dahn haben an Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) appelliert, die Kritik an der Reform-Agenda 2010 ernst zu nehmen. Die Verbesserungsvorschläge zum Reformprogramm müssten sorgfältig geprüft und "ein tragfähiger Kompromiss" angestrebt werden.

Die 325 Unterzeichner des am Montag der dpa übermittelten Appells der "Aktion für mehr Demokratie" um den Heidelberger Grafiker Klaus Staeck betonen die Notwendigkeit von Reformen für Deutschland, "um die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfest zu machen, um Pfade zu mehr Beschäftigung zu öffnen". Allerdings müsse man auch den Kritikern der Agenda 2010 aus der SPD zustimmen, wenn sie darauf beharrten, dass die unvermeidbaren Belastungen in diesem Reformprozess gerechter verteilt werden sollten.

Der Bundeskanzler täte gut daran, die Kritik aus den eigenen Reihen an den Reformplänen "nicht als Anschlag auf die Regierungsfähigkeit zu sehen, sondern als den Versuch, den notwendigen Reformprozess so zu gestalten, dass er von der Mehrheit der Menschen mitgetragen und damit erfolgreich sein kann".

"Es ist sozial ungerecht und zudem volkswirtschaftlich unklug, die Besitzer großer Vermögen und die Bezieher hoher Einkommen zu schonen und nur bei den Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern die Bezüge zu kürzen."

Zu den Unterzeichnern des Appells gehören unter anderem auch die Sängerin Katja Ebstein, der Regisseur Hans W. Geissendörfer, die Schriftsteller Christoph Hein, Erich Loest, Carola Stern und Fred Breinersdorfer, der Kabarettist Peter Ensikat, der SPD-Politiker Hans Koschnik, der deutsche PEN-Präsident Johano Strasser und der Pfarrer Friedrich Schorlemmer.