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16. Mai 2003, von Michael Schöfer
Anderen Wasser predigen, aber selbst Wein saufen


Lohnverzicht, Kürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes auf 12 bzw. 18 Monate und Zusammenlegung der Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe auf dem Niveau von letzterem - das sind momentan die sozialpolitischen Vorschläge von Regierung und Opposition. Diesbezüglich sind alle gleich. Damit, so hört man allenthalben, kommt Deutschland endlich aus der Krise. Seltsam nur, daß die Verfechter derartiger Rezepte das bloß bei anderen angewandt wissen möchten. Sich selbst nehmen sie davon großzügigerweise aus.

Nehmen wir zum Beispiel den Chef der Bundesanstalt für Arbeit, Florian Gerster. Der hat schon vor längerem die Begrenzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes auf 12 Monate empfohlen. Und das zu einer Zeit, in der diese Forderung selbst bei der SPD, der Florian Gerster angehört, noch nicht opportun gewesen ist. Er hat sich mit seiner Forderung durchgesetzt, wie wir mittlerweile wissen. In der Agenda 2010 steht es schwarz auf weiß.

Nun gehört Florian Gerster ganz offensichtlich zu den weniger qualifizierten Arbeitskräften, die nach ihrem Jobverlust befürchten müssen, nicht so schnell anderswo unterkommen zu können. Immerhin ist er schon 54, bekanntlich gehört man in diesem Alter bereits zum alten Eisen. Jedenfalls auf dem Arbeitsmarkt. Demzufolge würde ihm nach 12 Monaten ohne Job die Sozialhilfe drohen. Da ist es nur allzu verständlich, wenn er sich gegen dieses Risiko ein bißchen abgesichert hat.

Presseberichten zufolge ließ sich Florian Gerster nämlich vertraglich zusichern, selbst bei vorzeitigem Ausscheiden sein Jahresgehalt in voller Höhe (250.000 Euro) weiter zu beziehen. Und das bis zum Ende der Vertragslaufzeit (2007). [1] Ist das nichts? Schade nur, daß er seiner "Kundschaft" (den Arbeitslosen) eine derartig üppige Absicherung hartnäckig verweigert. Aber das ist natürlich etwas völlig anderes. Schließlich gefährden letztere den Sozialstaat, und zu dessen Erhalt muß man eben Opfer bringen. Florian Gerster opfert ebenfalls - im Amte. Und, wie wir gesehen haben, unter Umständen auch darüber hinaus. Merke: "Besitzstandswahrer" sind immer die anderen.

Kommen wir zu einem appetitlicheren Thema: Diäten. Damit ist allerdings nicht die berühmt-berüchtigte Brigitte-Diät gemeint, sondern vielmehr die Bezüge unserer Abgeordneten. Schön, daß sie darüber selbst bestimmen können. Schön für sie. In Baden-Württemberg hat man die Abgeordnetendiäten zuletzt am 1. August 2002 erhöht, damals um 2,8 Prozent auf 4.557 Euro. Da auch Abgeordnete leben müssen, will man sie am 1. März 2004 um weitere 2,4 Prozent anheben. Über zwei Jahre hinweg betrachtet ist das im Durchschnitt eine Anhebung um 2,6 Prozent. Die Abgeordneten bewegen sich damit in etwa im Rahmen der Lohnerhöhungen des Öffentlichen Dienstes (1. Januar 2003: 2,4 Prozent, 1. Januar 2004: 1 Prozent, 1. Mai 2004: 1 Prozent = durchschnittlich 2,2 Prozent). So weit, so gut.

Nun hat uns ein gewisser Erwin Teufel, seines Zeichens Ministerpräsident von Baden-Württemberg, kürzlich wissen lassen, daß eine derartige Anhebung "unverantwortlich hoch" bzw. "überhöht" sei. Sie wäre aus seiner Sicht "gegen jede Vernunft und ohne Rücksicht auf die Leistungskraft der Länderhaushalte" erfolgt, gerecht wäre in seinen Augen allein eine Nullrunde gewesen. Nein, er meint damit natürlich nicht die Anhebung der Abgeordnetendiäten, sondern ausschließlich das Ergebnis der letzten Tarifrunde des Öffentlichen Dienstes.

Aha, die Beschäftigten gefährden also mit ihren überzogenen Lohnansprüchen das Ziel der Konsolidierung des Landeshaushalts, die Abgeordneten mit ihrer Diätenerhöhung selbstverständlich nicht. Die Diätenerhöhung sei, so Landtagspräsident Straub in seinem Bericht, "gerechtfertigt", "prinzipiell notwendig" und "angemessen". [2] Offenbar im Gegensatz zu den erkämpften Lohnerhöhungen. Was lernen wir daraus? Wenn zwei das gleiche tun... Nein, das wußten wir schon länger. Leider. Um nicht mißverstanden zu werden: Den Abgeordneten sei ihre Erhöhung gegönnt. Sie sollen nur nicht anderen Lohnverzicht abverlangen, wenn sie gleichzeitig weiter aus dem Vollen zu schöpfen gedenken. Gemeinhin nennt man so etwas nämlich Heuchelei.

Vor diesem Hintergrund kann ich die Politikverdrossenheit, Verzeihung: Politikerverdrossenheit, der Bevölkerung gut nachvollziehen. Die fehlende Motivation der Beschäftigten ebenso. Die oben genannten Beispiele stehen hier nur stellvertretend für viele andere, sozusagen als Spitze des Eisbergs. Wenn man täglich mit neuen Hiobsbotschaften und den entsprechenden Konsequenzen (Sozialabbau) konfrontiert wird, aber im gleichen Atemzug die extreme Einseitigkeit der Maßnahmen registriert, kann einem das schon die Zornesröte ins Gesicht treiben. Solange die Lasten nicht gerecht auf allen Schultern verteilt werden, wird sich das bestimmt nicht ändern. Hoffentlich ist unser Gemeinwesen bis dahin nicht irreversibel beschädigt, denn zweifellos kann man eine Demokratie durch hemmungslose Selbstbedienungsmentalität auch zugrunde richten.

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[1] Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 19.08.2002
[2] Landtagsdrucksache 13/2046 v. 15.05.2003