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29. März 2005, von Michael Schöfer
Das Ende jeglicher Tyrannei?


US-Präsident George W. Bush präsentierte der Welt in der "Rede zur Lage der Nation" sein Credo für die Gestaltung der Zukunft: "Amerika wird mit den Alliierten der Freiheit demokratische Bewegungen in Nahost und darüber hinaus unterstützen, mit dem ultimativen Ziel, die Tyrannei in unserer Welt zu beenden". [1] Die ersten Wahlen im Nachkriegs-Irak wurden von ihm als "durchschlagender Erfolg" auf dem Weg zur Demokratie gefeiert. [2] Er sieht sich damit seinem erklärten Ziel, vom Irak aus die ganze Region zu demokratisieren und damit zu befrieden, einen großen Schritt näher gekommen. US-Außenministerin Condoleezza Rice möchte, daß sich die NATO künftig der "Verbreitung der Freiheit" widmet und sagt ihr deshalb eine große Zukunft voraus. Das Fundament hierfür seien die "gemeinsamen Werte". [3]

Das klingt auf den ersten Blick nicht schlecht, denn auf nichts wartet die Welt sehnsüchtiger, als auf eine praktikable Vision von Freiheit und Demokratie. Doch wo Freiheit und Demokratie drauf steht, ist noch lange keine Freiheit und Demokratie drin. Demokratie und Freiheit sind nämlich untrennbar mit der Herrschaft des Rechts verbunden, aber gerade in dieser Hinsicht ist Washington alles andere als ein leuchtendes Vorbild. Die USA behalten sich bekanntlich neuerdings das "Recht" vor, ihre Interessen notfalls ohne Übereinstimmung mit dem Völkerrecht durchzusetzen. Das beste Beispiel hierfür ist in jüngster Zeit der Krieg gegen den Irak gewesen. Der offizielle Kriegsgrund, der Vorwurf in Richtung Bagdad, illegal Massenvernichtungswaffen zu produzieren, hat sich letztlich als faustdicke Propagandalüge entpuppt. Die Weigerung des UN-Sicherheitsrats, den Krieg völkerrechtlich abzusegnen, erwies sich deshalb nachträglich als korrekte Haltung - wenngleich man dem Bagdader Tyrann, Saddam Hussein, wohl kaum eine Träne nachweinen dürfte.

Außerdem weigern sich die Vereinigten Staaten nach wie vor hartnäckig, den Internationalen Strafgerichtshof anzuerkennen. Gleiches Recht für alle? Nur dann, wenn es den selbstdefinierten Zielen der Supermacht USA nicht zuwiderläuft. Die amerikanischen Anti-Terror-Gesetze, die es möglich machen, Menschen kurzerhand als rechtlose Wesen zu deklarieren und ohne Anklage oder Gerichtsurteil praktisch unbegrenzt in Haft zu halten, sprechen jeglichem Rechtsverständnis hohn. Und die Folterungen in Guantanamo und Abu Ghraib werfen die Frage auf, ob man sich den bei Tyrannen üblichen Methoden nicht eher annähert, anstatt sich von ihnen zu entfernen. Sind das die propagierten "gemeinsamen Werte"? Ob die USA momentan überhaupt einen objektiven Demokratie-TÜV bestehen würden, darf man daher als äußerst ungewiß bezeichnen. Präsident Bush sollte eben nicht nur pathetisch über Freiheit und Demokratie reden, sondern auch entsprechend handeln. In den letzten Jahren ist die Kluft zwischen Reden und Handeln der Vereinigten Staaten allerdings wesentlich größer geworden, die großspurig verkündete Freiheits- und Demokratierhetorik nimmt ihm folglich kaum noch einer ab.

Wahlen im Irak sind an sich noch kein Demokratiebeweis, wenngleich sie zweifellos einen Fortschritt gegenüber dem Vorkriegszustand bedeuten. "Gewählt" hat man schließlich auch in der ehemaligen DDR. Demokratischen Standards hat die Wahl im Irak jedenfalls nicht entsprochen. Doch die eigentliche Frage ist, ob dadurch überhaupt demokratische Kräfte ans Ruder kommen. Das muß man jedoch mit einem großen Fragezeichen versehen. Im Irak mangelt es bislang, ebenso wie in der übrigen nahöstlichen Welt, schlechterdings an den kulturellen Voraussetzungen für eine rasche demokratische Umgestaltung. Wie lange Demokratisierungsprozesse dauern und wie mühevoll sie sind, sieht man gegenwärtig am Beispiel der vergleichsweise liberalen Türkei. Die Aufklärung, die im Westen die Demokratie hervorbrachte, ist in dieser Region noch gar nicht angekommen und beim Volk, abgesehen von einer verschwindend kleinen intellektuellen Minderheit, ohne jeglichen Widerhall. So werden die Sieger der Wahlen im Irak, die Schiiten, ihr Heil höchstwahrscheinlich in einem islamischen Gottesstaat suchen und nicht in einer parlamentarischen Ordnung westlicher Prägung. Darüber sollte man sich keinen Illusionen hingeben. Wahlen und Parlamente, so sie es denn im Nahen Osten überhaupt gibt, sind nichts anderes als Potemkinsche Dörfer, in Wahrheit herrschen dort ausnahmslos autokratische Regime. Einen säkularen Rechtsstaat sucht man jedenfalls vergebens.

Dieses unerläßliche gesellschaftliche Fundament der Demokratie, der säkulare Rechtsstaat, läßt sich freilich nicht herbeibomben. Der Versuch, ihn den islamischen Völkern von außen mit Waffengewalt aufzuzwingen, ist bestenfalls naiv. Insbesondere dann, wenn man hierbei eine bemerkenswerte Doppelmoral praktiziert. Traditionelle Verbündete der USA, beispielsweise die wahhabitischen Fundamentalisten in Saudi-Arabien, werden auffallend geschont. Den USA weniger zugeneigten Tyrannenstaaten (etwa Syrien oder Iran) zeigt man dagegen gern die Folterinstrumente, brandmarkt sie als "Schurkenstaaten" oder Mitglied der "Achse des Bösen". Im Zweifelsfall hat man sich in Washington bisher noch stets für die ökonomischen und militärischen Eigeninteressen und damit beharrlich gegen die lauthals propagierten hehren Absichten entschieden. Das tatsächliche amerikanische Defizit ist demzufolge in erster Linie ein Mangel an moralischer Glaubwürdigkeit, weniger das Vorhandensein von ökonomischem oder militärischem Unvermögen. Moralische Glaubwürdigkeitsdefizite sind indes nicht durch militärische Überlegenheit zu kompensieren.

Wie geht es weiter? Das ist die Preisfrage, auf die allerdings noch niemand eine Antwort weiß. Bis Januar 2004 wurden im Irak 1.440 US-Soldaten getötet, in den eigentlichen Kampfhandlungen des Irak-Krieges waren es hingegen nur 117. [4] Und täglich gibt es neue Opfer. Ein Ende des Widerstands ist nach wie vor nicht absehbar, der Blutzoll der US-Armee entsprechend hoch. Wie lange halten die USA das durch? Im Vietnam-Krieg verloren sie insgesamt 58.191 Soldaten [5], davon sind sie also noch weit entfernt. Aber in Vietnam dauerten die Kampfhandlungen mit amerikanischer Beteiligung mehr als 16 Jahre (von 1957 bis März 1973), der Irak-Krieg begann dagegen erst am 20. März 2003. Rechnet man die heutigen Zahlen hoch, ergäben sich im Irak nach 16 Jahren Verluste in Höhe von immerhin rund 12.000 Soldaten. Ein hoher Preis. Bedenkt man, daß sich die Kriegsgründe allesamt als Täuschungen entpuppt haben, ein zu hoher Preis. Wie damals während des Vietnam-Kriegs wird wohl die öffentliche Meinung in Amerika der ausschlaggebende Faktor sein. Der Druck auf die US-Regierung, sich aus dem Irak-Abenteuer zurückzuziehen, wird mit jedem toten GI wachsen.

Doch ein Rückzug ist genauso problematisch wie die weitere Besetzung. Erstens würde die irakische Regierung aus heutiger Sicht wohl schon bald nach dem Abzug der Amerikaner zusammenbrechen, zweitens käme er unter diesen Umständen einer überhasteten Flucht gleich. Die islamischen Fundamentalisten würden das ohne Zweifel als Niederlage des Westens interpretieren und als glorreichen Sieg über die Ungläubigen verkaufen. Nicht nur der Gesichtsverlust wäre immens. Die Lage könnte vielmehr noch schlimmer werden, als sie seinerzeit unter Saddam gewesen ist. Es nützt "old Europe" (US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld abfällig über die europäischen Kriegsgegner) wenig, festzustellen, daß sich die USA trotz eindringlicher Warnungen selbst in eine schier ausweglose Sackgasse manövriert haben. Die Frage ist, wie kann man ihnen dort wieder heraushelfen.

Wie gesagt, eine Antwort darauf ist äußerst schwierig. Doch als Grundvoraussetzung hierfür muß die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit des eigenen Handelns erheblich kleiner werden. Solange Freiheit und Demokratie im Zweifelsfall stets hinter anderen, meist ökonomischen Motiven zurückstehen, wird sich das Glaubwürdigkeitsdefizit nicht beheben lassen. Das politische System des Westens wird nur dann Wirkung entfalten, wenn es den entrechteten Massen der übrigen Welt echte Befreiung von Armut und Despotie verspricht. Eine Kultur der Heuchelei und des Zynismus wird ihnen niemals attraktiv erscheinen. Ändert sich nichts, dauert der Konflikt vermutlich noch über Generationen hinweg an. Kluges, weises, staatsmännisches Handeln würde das mit Sicherheit berücksichtigen. Vielleicht haben wir dazu nach Ablauf der Amtszeit von George W. Bush wieder eine Chance.

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[1] Frankfurter Rundschau vom 04.02.2005
[2] Frankfurter Rundschau vom 01.02.2005
[3] Frankfurter Rundschau vom 10.02.2005
[4] Frankfurter Rundschau vom 29.01.2005
[5] Robert S. McNamara, Vietnam, München 1997, Seite 409