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18. Juli 2004, von Michael Schöfer
Die Sackgassen-Gesellschaft


"Vorhersagen sind außerordentlich schwer, vor allem solche über die Zukunft." (Niels Bohr) Entwicklungen, insbesondere über längere Zeiträume hinweg, sind nur sehr schwer zu kalkulieren. Die einfache lineare Fortschreibung des Bestehenden unterliegt nämlich einem hohen Unsicherheitsfaktor, da sich die zugrundeliegenden Rahmenbedingungen womöglich rasch ändern. Und dann kann das Ganze schlagartig völlig anders aussehen. Der Straßenverkehr ist so ein Beispiel.

In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts waren Pferde das gebräuchlichste Verkehrsmittel - mit allen daraus resultierenden Problemen: "Allein in New York City produzierten die Pferde jährlich 136.000 Tonnen Dung." [1] Die lineare Fortschreibung einer dreiprozentigen Wachstumsrate beim Verkehrsaufkommen hätte damals wohl ergeben, daß New York spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts in Pferdemist zu versinken drohe. Immerhin würde sich der anfallende Dung innerhalb von 24 Jahren verdoppeln, und nach 70 Jahren hätten die New Yorker schon mehr als 1 Mio. Tonnen Dung beseitigen müssen. Das wäre natürlich ein Unding gewesen. Aber dann erfand 1885 ein gewisser Carl Friedrich Benz kurzerhand das Automobil. Jetzt waten wir nicht mehr durch die stinkenden Hinterlassenschaften unserer Transportmittel, wir blasen sie vielmehr in die Atmosphäre. Ob das letztlich die elegantere Lösung ist, lassen wir mal offen.

Wie dem auch sei, Wachstumsraten in diesen Größenordnungen sind in der Regel höchst problematisch, weil zum Erzielen derselben ein ständig steigender Aufwand betrieben werden muß. Um 1 Mio. Tonnen Pferdemist zu produzieren, hätte man notwendigerweise eine entsprechend große Menge Futter herstellen und transportieren müssen. Ob das gelungen wäre, ist äußerst fraglich, denn die zur Verfügung stehenden Ressourcen sind bekanntlich begrenzt.

Die Realisierung einer über 70 Jahre hinweg anhaltenden Wachstumsrate von drei Prozent wäre uns beim Pferdemist sicherlich gleich auf den ersten Blick abwegig erschienen. Und das zu Recht. Offenbar können wir uns das konkrete Problem mit tonnenweise anfallendem, übelriechendem Dung leichter vorstellen. In einem anderen, viel abstrakteren Bereich, pflegen wir jedoch nach wie vor den Mythos vom ewigen Wachstum, und zwar in bezug auf die Volkswirtschaft. Wir erleben ja gegenwärtig, was passiert, wenn es in diesem Bereich zuwenig Wachstum gibt. Sobald die Steigerung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) geringer ist als der erzielte Produktivitätsfortschritt, entsteht zwangsläufig Arbeitslosigkeit. Und da wir, was das angeht, mindestens seit Mitte der siebziger Jahre zu geringe Wachstumsraten erzielen, ist die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland inzwischen auf rund 4,5 Mio. gestiegen. Dieser Umstand hat nicht zuletzt gravierende Folgen für unser Sozialsystem. Einer wachsenden Zahl von Leistungsempfängern steht eine schrumpfende Zahl von Leistungserbringern gegenüber.

Die Bundesregierung unternimmt deshalb gerade den Versuch, mit allen erdenklichen Mitteln Wachstum zu generieren. Ob sie dabei die richtigen Rezepte anwendet, soll hier nicht näher erörtert werden. Die Lösung dieser Frage ist eine Aufgabe der kurzatmigen Tagespolitik, hier soll es dagegen um grundsätzlichere Dinge gehen. Alle namhaften Ökonomen sind sich zumindest in einem einig: Unabhängig davon, ob sie nun eher der neoliberalen Angebotspolitik (Kostenentlastung der Unternehmen) oder der keynesianistischen Nachfragetheorie (Stärkung der Massenkaufkraft) zuneigen, um die Arbeitslosigkeit nachhaltig zu reduzieren sollte es ihrer Ansicht nach in Deutschland mindestens 2,5 Prozent reales Wachstum geben. Besser drei Prozent. Nur so, behaupten sie übereinstimmend, sei ein Abbau der Arbeitslosigkeit, mithin die Gesundung unserer Wirtschaft denkbar. Im Ziel sind sie sich also einig, wenngleich nach wie vor hart über die richtigen Methoden gestritten wird.

Doch sind wir nicht längst durch das oben darlegte Problem mit dem unerfreulichen Wachstum des stinkenden New Yorker Pferdemistes etwas nachdenklicher geworden? Drei Prozent reales Wachstum, über einen möglichst langen Zeitraum hinweg, ist das überhaupt realistisch? Und was würde das konkret bedeuten? Nun, Deutschland hat im Jahr 2003 ein Bruttoinlandsprodukt in Höhe von 2.129,2 Mrd. Euro erwirtschaftet. [2] Ein reales Wachstum von drei Prozent unterstellt, würde das BIP im Jahr 2023 dann schon beachtliche 3.845,6 Mrd. Euro betragen (ein Plus von 81 Prozent). Nach 50 Jahren, also im Jahr 2053, wäre es mit 9.334,2 Mrd. Euro sogar um 338 Prozent höher. Real wohlgemerkt, nicht nominal. Kann man sich tatsächlich vorstellen, daß Otto Normalverbraucher in 50 Jahren das Vierfache an Gütern und Dienstleistungen konsumiert, vielleicht vier Autos fährt anstatt bloß einem? Wohl kaum.

Im Jahr 2000 gab es in Deutschland 43,8 Mio. Pkw [3], wird sich demzufolge im Jahr 2053 eine beängstigende Lawine von 191,8 Mio. Pkw über unsere Straßen quälen? Undenkbar! Dieses traditionelle Wachstumsmodell ist nicht nur völlig aberwitzig, obendrein ist seine weltweite Übertragbarkeit absolut wirklichkeitsfremd, denn wir sind nicht allein auf der Welt. "Sollte China eines Tages ähnlich motorisiert sein wie die USA, würden im Reich der Mitte 900 Millionen Autos unterwegs sein, 40 Prozent mehr als die Gesamtzahl der heutigen Autos auf der Erde. Selbst wenn man einrechnet, dass sich die Autotechnik bis dahin verbessert und die schädlichen Abgase reduzieren werden, sind die Herausforderungen an die Erdressourcen enorm." [4] China, ein Wachstumsmarkt für die Automobilindustrie? Nur isoliert betrachtet, wenn man alle anderen Gesichtspunkte außer acht läßt.

Die weltweit ausgewiesenen Ölreserven werden momentan mit 1,05 Billionen Barrel (1 Barrel = 159 Liter) angegeben, bei einem jährlichen Verbrauch von rund 30 Milliarden Barrel würden sie daher rechnerisch, gleichbleibenden Verbrauch vorausgesetzt, noch 35 Jahre reichen. [5] Natürlich ist das nur ein statistischer Wert, es werden ja immer noch neue Reserven entdeckt. Fragt sich bloß, ob in ausreichendem Maße. Der globale Verbrauch steigt jedenfalls stark an, das spüren wir zur Zeit an den Zapfsäulen, denn bei uns äußert sich dieser Mehrverbrauch im Anziehen des Spritpreises. Die Ölförderung hat im Jahr 2003 um 3,8 Prozent zugenommen, 41 Prozent davon sind auf den Wirtschaftsboom in China zurückzuführen. "In China wuchs die Energienachfrage insgesamt um fast 14 Prozent." [6] Längst kommt es dort, angesichts des enormen Energiehungers nicht weiter verwunderlich, zu Energieknappheit.

Das Bruttoinlandsprodukt des 1,3 Milliarden-Volkes hat 2003 um beeindruckende 9,1 Prozent zugelegt (nach 8 Prozent im Jahr zuvor). [7] China hat die Wachstumsraten, die sich die Politiker hier in Deutschland wünschen, damit könnte man sämtliche ökonomischen Probleme lösen. Wenigstens auf den ersten Blick. Doch mit welchen Konsequenzen? Wir werden erleben, wie das Wirtschaftswachstum der aufstrebenden Märkte die vorhandenen Ressourcen immer schneller plündern wird. Dem Gesetz von Angebot und Nachfrage folgend werden die Energiepreise vermutlich auf anhaltend hohem Preisniveau verharren. Alles könnte freilich noch viel schlimmer kommen. Gerade die vergleichsweise energieineffizienten Volkswirtschaften Asiens könnten bei einer deutlichen, unter diesen Umständen absehbaren Verknappung der Energiebasis kollabieren. Von den negativen Auswirkungen auf die Umwelt ganz zu schweigen.

Vieles kann hier nur angerissen werden, doch wird zumindest eines deutlich: Ein langfristig andauerndes reales Wachstum von drei Prozent ist illusorisch. Mit anderen Worten: Unsere Gesellschaft befindet sich in einem tiefgreifenden Zielkonflikt. Einerseits muß unser Wirtschaftswachstum, u.a. zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit, möglichst hoch sein. Andererseits ist eine derartige Entwicklung aus vorgenannten Gründen unwahrscheinlich. Zu ewigem Wachstum verdammt, aber dazu gleichzeitig außerstande. Bereits 1972 haben uns Donella und Dennis Meadows in ihrem Buch "Die Grenzen des Wachstums" auf diesen gravierenden Widerspruch hingewiesen: In einer endlichen Welt kann es kein unendliches Wachstum geben.

Haben wir diese schlichte, jedoch deshalb nicht falsche Erkenntnis kollektiv verdrängt? Sie wird jedenfalls kaum noch diskutiert. Daraus ergeben sich folgende Fragen: Haben wir uns durch die Art unseres Wirtschaftens nicht in eine schier ausweglose Sackgasse manövriert? Hat unsere Gesellschaft unter den gegebenen ökonomischen Rahmenbedingungen überhaupt noch eine Zukunft? Es geht hier, wie man sieht, nicht bloß um die Auseinandersetzung zwischen Angebots- und Nachfragetheorie, zwischen Bürgerversicherung und Kopfpauschale oder Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren. Es geht hier letztlich um die Form unserer Wirtschaft selbst. Überspitzt formuliert: Kann der Kapitalismus überleben?

Wie einleitend bereits erwähnt, Vorhersagen sind außerordentlich schwer. Durchaus möglich, daß morgen jemand eine bahnbrechende Entdeckung macht und damit all unsere Energieprobleme mit einem Schlag gelöst sind. Kann selbstverständlich genausogut sein, daß die bahnbrechende Entdeckung ausbleibt. Der Grat zwischen naivem Fortschrittsglauben und abgrundtiefem Pessimismus ist schmal. Was mich allerdings nachdenklich stimmt, ist das im öffentlichen Diskurs fast vollständige Ausblenden dieses grundsätzlichen Problems. Geht es wirklich bloß noch um Nuancen? Operieren die Parteien tatsächlich von Wahltermin zu Wahltermin und denken nicht mehr darüber hinaus? Sieht jeder nur noch Teilbereiche, aber nicht mehr das große Ganze?

Es würde den Rahmen bei weitem sprengen, hier detailliert Alternativen zu präsentieren. Das vermögen andere wesentlich besser als ich. [8] Mir ging es lediglich darum, das Bewußtsein dafür zu schärfen, daß man über wesentlich mehr diskutieren muß, als nur über die Agenda 2010 oder die Sicherung des Flächentarifvertrags, selbst wenn die tagespolitische Auseinandersetzung darüber nach wie vor wichtig ist und spannend bleibt. Lassen Sie mich mit einem Zitat von Seneca schließen: "Nicht weil es schwer ist, fangen wir es nicht an, sondern weil wir es nicht anfangen, ist es schwer." In diesem Sinne würde ich mir wünschen, daß wir endlich wieder über die grundlegenden Fragen zu diskutieren beginnen. Sonst bleiben wir da, wo wir uns meiner Meinung nach gerade befinden: in der Sackgasse.

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[1] Edward Tenner, Die Tücken der Technik, Frankfurt am Main 1999, Seite 369
[2] Statistisches Bundesamt vom 16.07.2004
[3] Fischer Weltalmanach 2004, Seite 1284
[4] Frankfurter Rundschau vom 22.08.2002
[5] Frankfurter Rundschau vom 25.05.2004
[6] Frankfurter Rundschau vom 01.07.2004
[7] Frankfurter Rundschau vom 05.03.2004
[8] etwa Friedrich Schmidt-Bleek, Das MIPS-Konzept, München 1998