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18. Juli 2004, von Michael Schöfer
Brauchen wir eine neue Linkspartei?


Kürzungen beim Weihnachts- und Urlaubsgeld, Wochearbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich (also faktische Lohnkürzungen), Verlängerung der Lebensarbeitszeit, Streichung von Urlaubs- und Feiertagen, Drohung mit Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland, zusätzliche Belastungen in der Renten-, Pflege- und Krankenversicherung, Nullrunden bei den Rentnern, Reduzierung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau - es gibt praktisch keinen Bereich, der in den letzten Wochen und Monaten ausgespart wurde. Jeden Tag wird eine andere Sau durchs Dorf getrieben. Der Druck auf die Arbeitnehmer im Land steigt enorm. Und die Politik streitet sich im Grunde nur um Nuancen. Mit dem Rotstift hantieren sie alle, ob nun Rot-Grün oder Schwarz-Gelb. Es gibt keine Alternative, sagen sie unisono. Und so geht das Streichkonzert munter weiter. Darf's ein bißchen mehr sein, die 50-Stunden-Woche vielleicht?

Man kann und darf über alles geteilter Meinung sein, das ist in einer Demokratie völlig normal. Die Pluralität der Meinungen ist sogar ein unverzichtbarer Bestandteil jeder demokratischen Gesellschaft, denn nur so können unterschiedliche Politikkonzepte angeboten und vom Wähler akzeptiert oder verworfen werden. Im öffentlichen Diskurs und in den Wahlentscheidungen sollten sich die Interessengegensätze der Bevölkerung widerspiegeln. Leider ist heute gerade das de facto aufgehoben. Längst werden Alternativen zum momentanen Kurs in der öffentlichen Diskussion marginalisiert, sind die Politikkonzepte merkwürdig eindimensional, sprich neoliberal. In den Parlamenten regiert eine stillschweigende Allparteienkoalition des Sozialabbaus. Das macht sich bemerkbar, vor allem bei der SPD. Wenn heute Bundestagswahlen wären, würde sie den aktuellen Umfragen zufolge jämmerliche 23 Prozent erzielen. Daran ist sie nicht natürlich schuldlos, denn mit ihrem Handeln hat die SPD massiv gegen ihre eigenen Prinzipien verstoßen und darüber hinaus schamlos das Wahlvolk belogen.

Das im Rahmen von Hartz IV eingeführte sogenannte Arbeitslosengeld II kommentierte Heribert Prantl wie folgt: "Arbeitslose müssen ihr kleines Vermögen (so vorhanden) verscherbeln. Die Anrechnungsvorschriften, die bisher für Sozialhilfeempfänger galten, werden nun auch auf die Arbeitslosen erstreckt - auf Leute also, die oft jahrzehntelang gearbeitet und Beiträge zur Arbeitslosenversicherung bezahlt haben. Wer künftig in der Arbeitslosigkeit vom Staat unterstützt werden will, der muss zum Beispiel seine Lebensversicherung zum läppischen Rückkaufswert veräußern, der muss sich seine kapitalisierte Unfallversicherung anrechnen lassen, der muss, so er sich ein Häuschen erspart hat, womöglich dieses Häuschen verkaufen. Der Sozialstaat kassiert privates Kleinvermögen von anständigen Leuten, die nichts dafür können, dass es kaum Arbeit gibt, die auch nicht schuld daran sind, dass der Arbeitsmarkt Fünfzigjährige wie Aussätzige behandelt. Eine solche Politik ist nicht sozialdemokratisch, sondern unanständig. (...) Wenn man das der SPD nach 140 Jahren SPD-Geschichte erklären muss, wird klar, warum es dieser Partei so schlecht geht." [1]

Doch der Niedergang der SPD nützt der Union nur zum Teil. Zwar legt sie bei Wahlen prozentual stark zu, dieser Zuwachs beruht jedoch hauptsächlich auf der Enthaltung vieler Wahlberechtigter. So haben CDU und CSU bei der Europawahl 2004, trotz der herben Niederlage der SPD (nur noch 21,5 Prozent), rund 1,7 Mio. Wähler verloren, nicht hinzugewonnen. Mit anderen Worten: Eine nennenswerte Wählerwanderung von der SPD zur Union findet überhaupt nicht statt. Es ist klar, warum. In einer repräsentativen Erhebung von Infratest-dimap hatten Ende Juni 48 Prozent Zweifel an der Regierungskompetenz der Union. Nur vier von zehn Bundesbürgern glauben, daß es die Union besser machen würde. 6 Prozent könnten sich hingegen sicher vorstellen, eine neue Linkspartei zu wählen, immerhin 38 Prozent halten die Wahl einer solchen Partei für prinzipiell denkbar. [2] Das frühere Wählerpotential der SPD ist nicht verschwunden oder abgewandert, es liegt zur Zeit nur brach.

Im Außenhandel verdient sich Exportweltmeister Deutschland gegenwärtig dumm und dämlich, konkurrenzfähig sind wir also allemal. Auf dem Binnenmarkt herrscht indes mangels Kaufkraft Flaute. Das ist logisch, denn die Nettolöhne der Arbeitnehmer stagnieren seit Jahren, die riesigen Außenhandelsüberschüsse kommen bei ihnen einfach nicht mehr an. Der Anteil der Lohn- und Umsatzsteuer am Steueraufkommen ist in den letzten 30 Jahren dramatisch gestiegen, der Anteil der Unternehmenssteuern dagegen kräftig gesunken. Genutzt, in Form von zusätzlichen Arbeitsplätzen, hat es freilich nicht. Die Kosten der deutschen Einheit wurden, durch drastische Erhöhung der Sozialabgaben, hauptsächlich von den abhängig Beschäftigten getragen.

Wo im Bundestag ist denn eine Partei, die auf die o.g. Sachverhalte hinweist und daraus die entsprechenden Konsequenzen zieht? Welcher "Wirtschaftsexperte" der Bundestagsfraktionen weist darauf hin, daß Löhne betriebswirtschaftlich betrachtet zwar Kosten sind, gesamtwirtschaftlich gesehen aber auch Nachfragepotential? Von wem werden eigentlich die vielen Bundesbürger, die der Ansicht sind, man dürfe nicht nur bei den Kleinen sparen, parlamentarisch vertreten? Welcher Abgeordnete pflichtet denen bei, die auf dem Standpunkt stehen, die Wirtschaft habe hauptsächlich dem Volk zu nutzen, nicht nur der Wirtschaft selbst? Wer vertritt eigentlich die, die sich - trotz gegenteiliger Bekundungen des politischen Establishments - nach wie vor einen grundlegend anderen Kurs vorstellen können respektive wünschen? Niemand!

Ich denke, gerade deshalb wir brauchen eine neue Linkspartei. Eine, die - im Gegensatz zur PDS - glaubwürdig andere Politikkonzepte vertritt. Die Pluralität der Meinungen in der Bevölkerung sollte sich meines Erachtens in den Parlamenten wiederfinden, damit die repräsentative Demokratie auch wirklich repräsentativ ist. Politiker reagieren leider erst dann, wenn Alternativen zur Wahl stehen und hierdurch ihre Abwahl droht. Proteste allein, das sehen wir ja zur Genüge, nützen nichts. Insofern würden auch die Gewerkschaften von einer neuen Linkspartei profitieren, denn dann könnte man endlich wieder sagen: "Wenn ihr nicht wollt, wählen wir das nächste Mal eben jemand anders. Aber einen, der es tatsächlich anders macht."

Sollte es im politischen System der Bundesrepublik wirklich einen Bedarf für eine neue Linkspartei gibt, dann wird sie sich auch durchsetzen. Die Grünen haben das ja Anfang der achtziger Jahre, als ein - von den etablierten Parteien hartnäckig ignoriertes - Bedürfnis nach einer anderen Umweltpolitik bestand, vorexerziert. Schwarz-Gelb an die Macht bringen, wie von manchen befürchtet, das erledigt die SPD momentan ganz von alleine, dazu braucht es keine neue Linkspartei. Folglich sind solche Einwände kaum stichhaltig. Und von einer Spaltung der Linken zu sprechen, die historisch betrachtet noch nie genutzt habe, ist absurd. Denn das würde unterstellen, daß die heutige SPD überhaupt links einzuordnen sei.

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[1] Süddeutsche Zeitung v. 01.07.2004
[2] Frankfurter Rundschau v. 03.07.2004