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22. August 2004, von Michael Schöfer
Lieber Kohl als Schröder?


Ich bekenne mich schuldig. Schuldig, einst für Rot-Grün Wahlkampf gemacht und sie sogar gewählt zu haben. Doch das ist lange her, mittlerweile gelte ich zum Glück als vollständig resozialisiert. Denn ich schwöre, bei allem was mir heilig ist, es wird nie wieder vorkommen. Meine Bewährungshelfer attestieren mir deshalb eine gute Sozialprognose. Damals, im Jahr 1998, habe ich noch voller Überzeugung geschrieben "Lieber Schröder als Kohl". Welch ein furchtbarer Irrtum. Niemals, nicht einmal in meinen schrecklichsten Alpträumen, hatte ich mir ausgemalt, daß es noch schlimmer kommen könnte, als es 16 Jahre lang unter dem schwarzen Riesen gewesen ist. So kann man sich täuschen.

Die Abkehr von der paritätischen Beitragsfinanzierung in der Renten- und Krankenversicherung und die Zusammenlegung der Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe auf dem Niveau von letzterem - das hat sich nicht einmal die schwarz-gelbe Vorgängerregierung getraut. Sie hätte auch den stürmischen Protest der früheren Oppositionsparteien geerntet. Seit diese jedoch in der Verantwortung stehen und eine einschneidende neoliberale Kurskorrektur vorgenommen haben, ist nichts mehr wie es war. Also doch - zurück marsch, marsch - lieber Kohl als Schröder? Nein, eigentlich nicht. Lieber eine grundsätzliche Alternative. Eine Wahlalternative.

Hartz IV ist der größte Sündenfall dieser Regierung. Nach Schätzungen werden am 1. Januar 2005 rund 3,5 Mio. Arbeitslosenhilfeempfänger und ihre Angehörigen zwangsweise zum Arbeitslosengeld II wechseln müssen und sich damit unversehens auf Sozialhilfeniveau wiederfinden. [1] Im Jahr 2003 wurden im Durchschnitt 747,63 Euro an Arbeitslosenhilfe (53 Prozent des Nettogehalts ohne Kinder und 57 Prozent mit Kindern) gezahlt [2], das neue Arbeitslosengeld II (für Alleinstehende 345 Euro in West- und 331 Euro in Ostdeutschland) bedeutet deshalb für viele einen enormen sozialen Abstieg. Nach Angaben des DGB werden rund 980.000 Arbeitslosenhilfebezieher, fast die Hälfte der bisherigen Empfänger, niedrigere Leistungen beziehen als zuvor. Dies wird vom Bundeswirtschaftsministerium bestätigt: 51 Prozent der westdeutschen und 44 Prozent der ostdeutschen Langzeitarbeitslosen werden nach neuem Recht weniger Geld bekommen, heißt es dort. [3]

Die bislang im Anschluß an das Arbeitslosengeld unbefristet gezahlte Arbeitslosenhilfe ist - im Gegensatz zur Sozialhilfe - eine Individualleistung, die sich nicht am Haushaltsbedarf, sondern am letzten Nettolohn orientiert. Für Arbeitslosenhilfebezieher gelten weniger strenge Bedürftigkeitsprüfungen (Anrechnung von Einkommen und Vermögen) als für Sozialhilfeempfänger. Das wird sich jetzt ändern, nun gelten beim Arbeitslosengeld II deutlich schärfere Bedingungen. Daraus folgt, daß ab Januar 2005 ein großer Teil der früheren Arbeitslosenhilfeempfänger wegen fehlender Bedürftigkeit keinen Anspruch mehr auf das neue Arbeitslosengeld II haben wird, nach Berechnungen der Bundesregierung trifft dies rund 25 Prozent der bisherigen Bezieher. [4]

Leistungen werden zudem nur noch gewährt, wenn sie in einem "angemessenen Rahmen" liegen, u.a. die Aufwendungen für den Wohnraum. Arbeitslosenhilfebezieher mußten sich früher keinerlei Gedanken um ihre Wohnung machen, ab Januar ist das völlig anders. Einer Einzelperson stehen dann nur noch 45 bis 50 Quadratmeter Wohnraum zu, zwei Personen ca. 60 Quadratmeter oder zwei Räume und drei Personen 75 Quadratmeter oder drei Räume. [5] Gradmesser ist künftig die amtlich verordnete Bedürftigkeit. Der Autor dieser Zeilen müßte den neuen Bestimmungen zufolge im Falle von lang anhaltendender Arbeitslosigkeit umziehen und dabei zwangsläufig einen Teil seines Hausrats aufgeben. Toll. Nach Schätzungen sind drei bis fünf Prozent der Arbeitslosenhilfebezieher in einer ähnlichen Situation, bundesweit könnten demnach 100.000 bis 175.000 Menschen betroffen sein. [6] Gesicherte Erkenntnisse gibt es freilich nicht. Bezieher des Arbeitslosengelds II müssen darüber hinaus künftig jede Arbeit annehmen, soweit sie nicht gegen die guten Sitten verstößt. Dies gilt insbesondere für Arbeiten, die unter dem Tariflohn oder unter der ortsüblichen Bezahlung vergütet werden. Weigert sich ein Hilfeempfänger, kann das zum völligen Verlust der Leistungen führen.

Das Prinzip des "Fordern und Förderns" ist vom Grundsatz her durchaus richtig, Hartz IV geht diesbezüglich jedoch buchstäblich in die falsche Richtung. Denn bestraft wird nicht der vermeintlich "faule" oder "unwillige" Arbeitslose, sondern alle Menschen ohne Arbeit - unabhängig von ihrem individuellen Verschulden. Wenn man Arbeitslosen einen konkreten Arbeitsplatz, von dem sie leben können, anbietet und dieser mit wenig plausiblen Gründen abgelehnt wird, ist die Kürzung staatlicher Leistungen zweifellos gerechtfertigt. Aber genau das passiert ja nicht. Denn ohne auf den Einzelfall einzugehen werden ausnahmslos alle Langzeitarbeitslose, die unter 55-Jährigen nach zwölf und die über 55-Jährigen nach 18 Monaten, auf Sozialhilfeniveau landen. Differenziert wird nicht, es wird vielmehr pauschal gekürzt.

In Baden-Württemberg mußte gerade der Matratzen- und Polstermöbelhersteller Hukla Insolvenz anmelden, die Sanierung wird mindestens 600 Arbeitsplätze kosten. Findet sich kein neuer Investor, verlieren sogar alle 1.250 Beschäftigten ihren Arbeitsplatz. [7] Es ist bekannt, wie es augenblicklich auf dem Arbeitsmarkt aussieht. Grausam. In der Bundesrepublik gab es im Juli 2004 exakt 4.359.934 Arbeitslose, denen standen genau 296.588 offene Stellen gegenüber. [8] Auf eine offene Stelle kamen somit rechnerisch 14,7 Arbeitslose. Mit anderen Worten: Statistisch betrachtet sind 93 Prozent der Arbeitslosen von vornherein ohne jede Chance auf einen neuen Job, unabhängig davon, wie intensiv sie sich um einen Arbeitsplatz bemühen. Das ist der statistische Durchschnitt, vor allem in Ostdeutschland ist das Verhältnis deutlich ungünstiger. Von den 1.250 Beschäftigten der Firma Hukla werden also viele, vor allem ältere Arbeitnehmer jenseits der 50, vermutlich keine Chance haben, einen anderen Arbeitsplatz zu bekommen.

Was soll man einem 50jährigen Hukla-Beschäftigten sagen, der bisher vielleicht nie arbeitslos war und unter Umständen 35 Jahre lang treu und brav Monat für Monat in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat? Daß er zum Dank für seine unverschuldete Arbeitslosigkeit und weil Unternehmer Menschen ab 50 zum alten Eisen zählen nach einem Jahr zum Sozialhilfeempfänger wird? Daß er dann die Lebensversicherung vorzeitig auflösen und seine Wohnung vielleicht verlassen muß, bloß weil die Bürokratie sie als unangemessen groß bewertet? Und wo bleibt da das Verursacherprinzip? Wenn jemand selbst nach der hundertsten Bewerbung keinen neuen Arbeitsplatz ergattert, einfach weil es keinen gibt, darf man ihn dafür wirklich verantwortlich machen und mit der Kürzung staatlicher Leistungen bestrafen? Von Leistungskürzungen bei Unternehmen, die nicht einstellen, ist übrigens bei Hartz IV nicht die Rede. Typisch. So darf man Menschen nicht behandeln, denn das widerspricht allen Grundsätzen von Gerechtigkeit und Solidarität. Grundwerte, zu denen sich die SPD nach wie vor bekennt - zumindest in ihren Sonntagsreden. Ihre konkrete Politik sieht dagegen anders aus.

Das wahre Ziel von Hartz IV ist nicht die Verminderung von Arbeitslosigkeit, sondern ein fiskalisches. Es soll offenbar ohne Rücksicht auf Verluste gespart werden. Und das ausschließlich auf dem Rücken der Schwächeren dieser Gesellschaft, auf Kosten von Menschen, die keine Lobby haben und sich häufig nicht wehren. Außerdem entfaltet die mit Hartz IV verbundene Verpflichtung der Leistungsempfänger zur Annahme von gemeinnützigen Ein- oder Zwei-Euro-Jobs eine für die Bundesregierung äußerst segensreiche Wirkung: Die Arbeitslosenstatistik wird geschönt. Wie praktisch, vor allem dann, wenn man Wahlen gewinnen will.

Die Unternehmer wiederum freuen sich über die unter den Arbeitnehmern grassierende Angst vor dem sozialen Abstieg. So drückt man erfolgreich die Lohnkosten. Ist es Zufall, wenn der Erfinder von Hartz IV, der VW-Personalvorstand Peter Hartz, seinen Beschäftigten neuerdings eine 30prozentige Arbeitskostenverringerung abverlangt? [9] Wohl kaum. Hartz IV ist für die Wirtschaft der seit langem herbeigesehnte Hebel, um endlich eine allgemeine Senkung des Lohnniveaus durchzusetzen. Dann kann man allerdings - mangels Kaufkraft - den Aufschwung auf dem Binnenmarkt ganz vergessen, weitere ökonomische Probleme und erneute Sparrunden sind somit vorprogrammiert. Die allseits bekannte Spirale nach unten.

Hartz IV ist der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen gebracht hat und für viele Menschen Anlaß, gegen die unsoziale Politik der Bundesregierung zu demonstrieren. Doch Hartz IV ist nur ein Punkt unter vielen. Hartz IV ist Symbol, nicht Kern der Misere. Es geht in Wahrheit um eine grundsätzlich andere Politik. Und da Politiker erfahrungsgemäß erst reagieren, wenn man ihre Wiederwahl in Frage stellt, brauchen wir mehr als Montagsdemos. Was wir brauchen, ist eine wählbare Alternative. Nicht nur protestieren, sondern auch anders wählen, das ist das Gebot der Stunde. Damit wir nicht ständig zwischen Pest (Rot-Grün) und Cholera (Schwarz-Gelb) hin- und herpendeln müssen. Durch das permanente Auswechseln der Krankheit wird nämlich kein Patient gesund.

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[1] Frankfurter Rundschau vom 19.08.2004
[2] Bundesagentur für Arbeit, Tabelle Alg-Höhe 2003
[3] Frankfurter Rundschau vom 02.07.2004
[4] Prof. Dr. Gerhard Bäcker (Universität Duisburg-Essen), Arbeitslosengeld II - Grundsicherung für Arbeitssuchende, Sozialpolitik-aktuell.de
[5] Mannheimer Morgen vom 16.08.2004
[6] Frankfurter Rundschau vom 21.08.2004
[7] SWR-Nachrichten
[8] Arbeitsamt, Statistik, Arbeitsmarkt in Deutschland
[9] Frankfurter Rundschau vom 21.08.2004