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20. September 2004, von Michael Schöfer
Terror ohne Ende?


Eine Geiselnahme mit blutigem Ausgang in Beslan läßt mehr als 330 Tote zurück, darunter viele Kinder. Wenige Tage zuvor führen in Rußland Selbstmordanschläge zum Absturz zweier Passagierflugzeuge. Der Afghanische Präsident Hamid Karsai entkommt knapp einem Attentat, anhaltend heftige Kämpfe im Irak und erneut Bombenanschläge auf Busse in Israel. Fast jeden Tag liest man ähnliche Meldungen. Der Terror nimmt offenbar kein Ende mehr. Die Terrorakte in New York (11.09.2001) und Madrid (11.03.2004) waren lediglich dramatische Höhepunkte einer Terrorkampagne, die, eine breite Blutspur hinterlassend, seit Mitte der neunziger Jahre um den Globus zieht.

In solchen Zeiten neigen die Menschen zu undifferenziertem Denken. Leider. Das ist verständlich, aber wenig hilfreich. In der vergangenen Woche haben zum Beispiel in Deutschland Schülerinnen und Schüler in einer Schweigeminute den russischen Opfern von Beslan gedacht. Zu Recht, wie ich meine. Doch wer gedenkt den tschetschenischen Opfern? In zwei Kriegen (1994/1996 und seit 1999) sollen dort mindestens 160.000 Menschen getötet worden sein, darunter 40.000 Kinder. Hinzu kommen etliche Gefolterte, Vergewaltigte, Verschollene und Menschen, die Krankheiten zum Opfer gefallen sind. Insgesamt wird der Blutzoll der Tschetschenen auf 180.000 Tote geschätzt - immerhin 20 Prozent der Bevölkerung. [1]

Im Irak haben die USA seit Kriegsbeginn über 1.000 Soldaten verloren. Das ist, unabhängig davon, welche Haltung man zur Politik George W. Bushs einnimmt, für die jeweils betroffene amerikanische Familie eine furchtbare Katastrophe. Schätzungen von Amnesty International zufolge sind aber gleichzeitig 10.000 Iraker ums Leben gekommen, die Iraker haben also zehnmal mehr Opfer zu beklagen als ihre "Befreier". [2] Gleiches geschieht in Israel. Seit Beginn der zweiten Intifada im September 2000 sind nach Angaben der UN 949 Israelis getötet worden, die Palästinenser hatten jedoch im selben Zeitraum 3.553 Tote zu beklagen - fast viermal soviel. [3]

Diese Gegenüberstellung soll keine Rechtfertigung des Terrors bedeuten. Aber die Frage muß erlaubt sein, ob wir den Haß und die Gewalt, die uns (den westlichen Demokratien) momentan entgegenschlägt, richtig einordnen. Und ob wir dabei die vielen Opfer der anderen Seite nicht gedankenlos übersehen. Eine tschetschenische, irakische oder palästinensische Mutter trauert nämlich um ihren Sohn genauso wie eine spanische oder amerikanische. Gleichwohl leiden wir mit letzteren viel mehr mit, fühlen uns emotional derart beteiligt, als habe es uns selbst getroffen. Der ebenso grausame Tod tschetschenischer Kinder berührt uns hingegen kaum. Zumindest nicht in gleichem Ausmaß. Pressemeldungen über deren Sterben sind relativ selten. Die tschetschenischen Kinder finden einen stillen, von der Weltöffentlichkeit meist unbeachteten Tod. Es sei denn, es passiert ein spektakulärer Anschlag.

Den Terror zu besiegen ist fast unmöglich. Zumindest dann nicht, wenn man sich keine Gedanken über dessen Ursache macht. So wird beispielsweise häufig darauf hingewiesen, daß die Attentäter des 11. September gar nicht den ungebildeten und verarmten Massen Arabiens angehörten. Im Gegenteil, als Akademiker und Auslandsstudenten waren sie vielmehr privilegiert. Folglich könne die These vom Kampf zwischen Arm und Reich nicht stimmen. Doch diese Argumentation zeugt von wenig Geschichtskenntnis. Fast immer entstammten die Anführer von Revolutionen den gebildeten Schichten ihres Volkes. Das war etwa bei der amerikanischen, französischen und russischen Revolution der Fall. Revolutionen, die in den letzten 250 Jahren die politische Landschaft dieses Planeten zweifellos entscheidend verändert haben. Und der beste Helfer von Revolutionären war schon immer die Ignoranz der Herrschenden.

Nun mögen einige den Vergleich von Osama bin Laden oder Mohammed Atta mit George Washington empört zurückweisen. Doch gilt das auch für Robespierre und Lenin? Von seinem Selbstverständnis her steht Osama bin Laden vermutlich auf der gleichen Stufe. Was er versucht, ist die revolutionäre Umgestaltung der globalen Machtverhältnisse. Ob uns das paßt oder nicht. Um Erlaubnis haben Revolutionäre sowieso nie nachgefragt. Wichtig für Revolutionäre ist demgegenüber die Zustimmung derer, die sie zu vertreten vorgeben. Und wer kann bestreiten, daß bin Laden bei den Massen in den islamischen Staaten mit großer Sympathie rechnen kann. Für uns unverständlich, aber Fakt. Das zu bestreiten, bloß weil es uns nicht gefällt und unseren Werten zuwiderläuft, wäre fatal.

In den arabischen Staaten sind 40 Prozent der Erwachsenen Analphabeten. Ein Wert, der nur durch die Analphabetenrate in Süd- und Westasien überschritten wird. [4] Insofern sollten wir nicht allzuviel Hoffnung in das Differenzierungsvermögen dieser Völker investieren. Vor allem dann nicht, wenn wir daran denken, wie undifferenziert wir selbst manche Vorgänge bewerten. Doch gerade auf differenziertes Denken kommt es an, denn Revolutionäre brauchen die Zustimmung des Volkes (oder maßgeblicher Teile davon) wie die Fische das Wasser. Dies zu begreifen, ist der erste Ansatz.

Was wäre bin Laden ohne die mehr oder minder stillschweigende Zustimmung der Massen? Nichts. Wahrscheinlich wäre er längst gefaßt. Alle Revolutionen wären kläglich gescheitert, wenn sie nicht auf fruchtbaren Boden gefallen wären. Hätten die Engländer damals klüger gehandelt, gäbe es heute womöglich keine Vereinigten Staaten von Amerika. Eine rechtzeitige soziale Umgestaltung Frankreichs hätte Marie Antoinette sicherlich das Leben gerettet. Und die Agitation Lenins wäre gewiß ohne Resonanz geblieben, hätte der Zar sein Volk nicht bis aufs Blut ausgepreßt. Die Torheit der Herrschenden war schon von jeher immens.

Mit anderen Worten: Es kommt gar nicht so sehr auf die militärische Bekämpfung der Anführer an, sondern vielmehr auf den politischen Kampf um die Herzen und Hirne der Völker. Anführer ohne breite Zustimmung sind nichts anderes als Verlierer, die sich mit ihren radikalen und verrückten Thesen eher der Lächerlichkeit preisgeben anstatt irgend etwas bewirken zu können. Ich habe freilich große Zweifel daran, ob wir in dieser Beziehung immer klug beraten sind. Daß sich z.B. die USA im Irak längst in eine schier ausweglose Sackgasse manövriert haben, dürfte inzwischen jedem klar geworden sein. Dort hat man mittlerweile durch eigenes Fehlverhalten mehr Terroristen erzeugt als erfolgreich bekämpft.

Eignen wir uns versuchsweise die Perspektive eines Durchschnittsbürgers irgendeines islamischen Landes an. Wie würden wir uns dann bewerten? Als prinzipienfeste Vertreter der Demokratie? Als unbeirrbare Kämpfer für die Herrschaft des Rechts? Als uneigennützige Wohltäter der Menschheit? Als Menschen, die im Zweifelsfall der Moral den Vorzug vor dem schnöden Mammon geben? Wohl kaum, denn wenn wir ehrlich sind, bewerten wir uns selbst ganz anders. Wie müssen wir erst in den Augen unserer Kontrahenten aussehen? Vielleicht als moralisch verdorbene Heuchler und geldgierige Ausbeuter. Es geht jetzt nicht darum, uns nachträglich die Schuld für die Terrorakte zuzuschieben, mithin Opfer zu Tätern zu machen. Doch den eigenen Anteil an der Misere sollten wir nicht völlig außer acht lassen. Und die Opfer der anderen ebensowenig.

Wir sollten vielmehr bereit sein umdenken. Sonst entpuppt sich die These vom "Zusammenprall der Kulturen" (Huntington) tatsächlich noch als selbsterfüllende Prophezeiung. Daß Osama bin Laden oder Schamil Bassajew (der tschetschenische Rebellenführer und Verantwortliche für Beslan) derartige Resonanz erzielen, hat unzweifelhaft Gründe. Diese dauerhaft zu ignorieren, könnte letztlich verheerend sein. Man mag bin Laden und Bassajew vielleicht als Person ausschalten können, durch törichtes Handeln wachsen jedoch immer wieder neue bin Ladens oder Bassajews nach. Der Terror kann aber nur besiegt werden, wenn dieser Nachschub austrocknet. Dazu bedarf es m.E. einer grundlegend anderen Politik.

Guantanamo, Abu Ghraib und die bestehende Weltwirtschaftsordnung sind die beste Nachwuchswerbung für Terroristen. Solange das so bleibt, wird es immer wieder schreckliche Anschläge geben, denn hundertprozentige Sicherheit zu erreichen ist eine gefährliche Illusion. Die islamischen Staaten müssen ihren Beitrag zum Ende des Terrors leisten, wir aber ebenfalls. Den Status quo ante wird es indes nie wieder geben, denn die Uhr läßt sich einfach nicht mehr zurückdrehen. Gewiß, irgendwann wird die Welt wieder ein friedlicheres Miteinander erreichen. Fragt sich bloß zu welchen Konditionen. Wenn wir nicht aufpassen, sind es deutlich schlechtere als vorher.

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[1] Gesellschaft für bedrohte Völker, "Tschetschenien: Wer ist mit dem Genozid solidarisch?" vom 13.9.2004
[2] Frankfurter Rundschau vom 09.09.2004
[3] taz vom 13.8.2004
[4] Frankfurter Rundschau vom 09.09.2004