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19. April 2005, von Michael Schöfer
Null Toleranz


So sieht kein Angeklagter aus, der seinen Taten bereut. Im Gegenteil, Manfred Kanther ist nach wie vor fest von seiner Unschuld überzeugt. Das ist sein gutes Recht. Urteilen darüber werden allerdings die Gerichte, wie es in einem demokratischen Rechtsstaat üblich ist, nicht die Angeklagten selbst. Kanther rang nach dem vorläufigen Urteilsspruch des Landgerichts Wiesbaden (1 1/2 Jahre Haft auf Bewährung und als Bewährungsauflage die Zahlung von 25.000 Euro) sichtlich um Fassung. Mit Erstaunen nahm er zur Kenntnis, daß die juristischen Maßstäbe, nach denen man andere beurteilt, natürlich auch für ihn gelten.

Seinerzeit, als Bundesinnenminister, verfolgte er gegenüber Straftätern die Null-Toleranz-Strategie. Urheber dieser Strategie war ein gewisser Mr. Bratton, ehemaliger Polizeipräsident von New York. Dessen "Broken-Windows-Theorie" zufolge fängt das Zurückweichen vor Kriminalität bereits mit der Hinnahme von zerbrochenen Fenstern (broken windows) an, das sei ein Zeichen für beginnende Verwahrlosung und würde zwangsläufig in Schwerkriminalität münden. Als Strategie propagierte Bratton deshalb "Null Toleranz" gegenüber dem winzigsten Rechtsbruch, jedes noch so kleine Fehlverhalten sei rigoros zu verfolgen und zu bestrafen. Die Justiz wurde vom damaligen Bundesinnenminister Kanther, einem ausgewiesenen Anhänger Brattons, eindringlich aufgefordert, konsequenter ihren Beitrag zur Kriminalitätsbekämpfung zu leisten. [1] Diese Anregung ist offenbar auf fruchtbaren Boden gefallen, wie das Urteil des Wiesbadener Landgerichts belegt.

Kanther gerierte sich gerne als Saubermann, als schwarzer Sheriff, der mit hartem Durchgreifen für Recht und Ordnung sorgt. Doch Recht und Ordnung sollten anscheinend nur für andere gelten, nicht für ihn selbst. Im Kampf gegen den "linkswütigen Zeitgeist", was immer Kanther darunter im Einzelfall verstehen mag, dürfe man schon einmal beide Augen zudrücken, rechtfertigt er sich heute. Urplötzlich ist von "Null-Toleranz-Strategie" keine Rede mehr.

Die frühere Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesverteidigungsministerium, Agnes Hürland-Büning, kam im Zuge der Leuna-Affäre in den Verdacht, Bestechungsgelder in Millionenhöhe entgegengenommen zu haben. Der ehemalige Staatsekretär Holger Pfahls, dem das gleiche Delikt vorgeworfen wird, ist nach jahrelanger Flucht erst vor kurzem verhaftet und an Deutschland ausgeliefert worden. Sein Prozeß wird demnächst beginnen. Wolfgang Schäuble mußte wegen einer dubiosen 100.000-Mark-Spende des Waffenhändlers Karlheinz Schreiber, gegen den die deutsche Justiz ebenfalls ermittelt, als CDU-Vorsitzender zurücktreten. Schließlich sei noch Kanthers früherer Chef zu erwähnen, Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl. Auch bei ihm ging es bekanntlich um zwielichtige Parteispenden, deren Herkunft nie geklärt wurde. Ruft da jemand den Namen Möllemann? Richtig, man soll keinen vergessen.

Darf man der schwarz-gelben Bundesregierung also nachträglich Verwahrlosungserscheinungen attestieren, die bei gewonnener Bundestagswahl zwangsläufig in Schwerkriminalität gemündet wären? Kanthers damaligen Aussagen zufolge, eindeutig ja. Manfred Kanther wird gegen das Urteil Rechtsmittel einlegen, bis zur Rechtskraft hat er demzufolge als unschuldig zu gelten. Ihm soll die Toleranz zuteil werden, die er anderen gerne verwehrt hätte. Doch das Urteil des Landgerichts Wiesbaden läßt hoffen. Darauf, daß einflußreiche Politiker vor Gericht keinen Bonus mehr erhalten. Und darauf, daß vor dem Gesetz tatsächlich alle gleich sind.

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[1] Frankfurter Rundschau vom 07.10.1997