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15. Juni 2005, von Michael Schöfer
Stammzellenforschung - ein schwieriger ethischer Konflikt


Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) hat die Diskussion um die Stammzellenforschung neu entfacht. "Wir dürfen der Wissenschaft nicht vorschnell Optionen aus der Hand nehmen", mahnte er. "Sich den Chancen des wissenschaftlichen Fortschritts zu verschließen, nur weil es Risiken gibt oder weil die Risiken nicht vollständig überschaubar sind, halte ich persönlich für den falschen Weg." Man habe die "Pflicht, diese Forschung zu nutzen", wenn man damit Aussicht auf neue Möglichkeiten hat, schwere Krankheiten zu heilen, so der Kanzler. Volker Beck (Bündnis 90/Die Grünen) hielt dem entgegen, die wissenschaftliche Nutzung von Embryonen sei ein "forschungspolitisch verbrämter Kannibalismus". Er warnte davor, die Grenzen in der Bioethik "leichtfertig den Heilsversprechen der Medizin und den ökonomischen Interessen der Pharmaindustrie zu opfern". [1]

Die Kontroverse um die Stammzellenforschung wurde jüngst durch spektakuläre Erfolge südkoreanischer Forscher angeheizt, die mit Hilfe des Klonverfahrens erstmals Körperzellen von Menschen in den embryonalen Zustand zurückversetzt haben. Stammzellen sind noch nicht ausdifferenzierte Körperzellen, aus denen man, so hoffen zumindest viele Wissenschaftler, gezielt ausdifferenziertes Körpergewebe (Organe, Nervengewebe, Muskeln, Knochen, Blutzellen etc.) züchten kann, die vom Empfänger nicht abgestoßen werden. Gelingt dies, wäre das die Rettung für viele Patienten, die vergeblich auf eine Organtransplantation warten oder denen bislang, wie etwa Querschnittsgelähmte, an Parkinson und an Multiple Sklerose Leidende, überhaupt nicht geholfen werden konnte. Doch das therapeutische Klonen (die Gewebezucht aus dem Klon eines Kranken) ist in Deutschland verboten.

Das Stammzellen-Gesetz vom 28.06.2002 untersagt in § 4 generell die Herstellung von embryonalen Stammzellen und gestattet die Forschung mit importierten Stammzell-Linien nur, wenn die Kulturen bereits vor dem 1. Januar 2002 existiert haben (Stichtagsregelung). Wissenschaftler werten das als enorme Behinderung ihrer Forschung und halten die gesetzlichen Bestimmungen für viel zu restriktiv. Hierdurch sei der Forschungsstandort Deutschland gefährdet. Mit den erlaubten Stammzell-Linien könne man nicht vernünftig arbeiten, heißt es. Sie seien zu alt und zu labil. Der Knackpunkt bei der Gewinnung von embryonalen Stammzellen ist: Menschliche Embryonen werden zunächst hergestellt und am Ende wieder abgetötet. Stammzellen kann man aus einem Embryo bereits nach sieben oder acht Zellteilungen gewinnen, der Embryo muß dazu nur rund 200 Zellen umfassen. Manche bezeichnen das, weil aus einem Embryo potentiell ein ganzer Mensch entstehen kann, als ethisch nicht gerechtfertigt.

Sämtlich Argumente für und wider die Stammzellenforschung lassen sich hier natürlich nicht anführen. Die ethischen und medizinischen Bedenken sind ebenso berechtigt, wie die Beweggründe der Befürworter. Die entscheidende Abwägung ist für mich: Darf man einen Embryo, der lediglich aus 200 Zellen besteht, wirklich töten? Oder besitzt er von Anfang an unveräußerliche Menschenrechte, die seine Tötung untersagen? Dem gegenüber steht die Hoffnung für viele Kranke, denen anders vielleicht nie geholfen werden kann. Müssen die Interessen von Lebenden somit tatsächlich hinter den Interessen eines "Zellklumpens" zurückstehen?

Wenngleich die Grenze, wie weit man letztlich gehen darf, in der Praxis wohl schwer zu ziehen ist (ethische Ansichten ändern sich ständig), bin ich dennoch entschieden für die Freigabe der Stammzellenforschung. Die Interessen von Lebenden wiegen für mich einfach schwerer, als die in meinen Augen nachrangigen Interessen von Embryonen. Das Argument, wenn wir es nicht tun, tun es andere, ist gewiß töricht. Aber auch die Haltung, bei uns etwas zu verbieten, während man die Kranken später womöglich zur Therapie ins Ausland schickt. Dieses Vorgehen ähnelt eher der Selbstgerechtigkeit von Pontius Pilatus ("Ich wasche meine Hände in Unschuld"). Auch die Leichenöffnung zu anatomischen Studien war einst heiß umstritten, obwohl sie von der Kirche nie offiziell verboten wurde. Heute würden wir ihre Ablehnung zu Recht als absurd bezeichnen. Sollten die Hoffnungen, die mit der Stammzellenforschung verbunden sind, dereinst Früchte tragen, wird man zu ihr vermutlich die gleiche Einstellung haben. Wenn es spektakuläre Heilungserfolge gibt, treten sicherlich alle anderen Gesichtspunkte zurück. Etwas anderes wäre auch - vor allem ethisch - nicht zu vermitteln. Den Weg dorthin dürfen wir nicht verbauen.

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[1] Frankfurter Rundschau vom 15.06.2005