Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



21. Juni 2005, von Michael Schöfer
Diese Heuchler


In Deutschland wird in Wahlkampfzeiten noch kräftiger geheuchelt als sonst. Die Kanzlerkandidatin der CDU, Angela Merkel, bemängelt etwa, daß "in der Diskussion über Arbeitslose und Reiche oft die Mittelschicht außer Sicht gerate. Sie in den Blick zu nehmen, sei sehr wichtig", so Merkel [1] Das klingt fast wie Gerhard Schröders "Neue Mitte" anno 1998. Was daraus wurde, ist hinlänglich bekannt. Dessen Partei wiederum, die SPD, fordert neuerdings eine "Sondersteuer für Millionäre". [2] Und die Grünen "wollen die Lohnnebenkosten vor allem im unteren Einkommensbereich absenken. Finanziert werden solle dies durch eine stärkere Besteuerung von privaten Spitzeneinkommen." [3]

Deutschlands Politiker denken sozial. Fragt sich bloß, wer all die Grausamkeiten der letzten Jahre beschlossen hat. Die Reduzierung des Spitzensteuersatzes und die Steuergeschenke an die Unternehmen sind ja nicht vom Himmel gefallen. Die etablierten Parteien benehmen sich gegenwärtig wie Holzfäller, die sich mit der noch warmen Kettensäge in der Hand lauthals darüber beklagen, daß der Wald verschwunden ist. Mit anderen Worten: Die Täter stellen sich jetzt reihenweise Persilscheine aus. Keiner will es gewesen sein, und alle wollen es anders machen.

Merken die Politiker, daß sie überzogen haben? Ist dies ihr stillschweigendes Eingeständnis, im Sozialbereich kläglich versagt zu haben? Mitnichten. Es geht lediglich um Wählerstimmen. Und wie man die bekommt, wissen Politiker genau: Nur nicht in Verdacht geraten, man führe neue Grausamkeiten im Schilde. Immer in der Hoffnung, der dumme Wähler wird schon nichts merken. Wer weiß, vielleicht liegen sie damit gar nicht so falsch.

"Sozial ist, was Arbeit schafft", heißt gegenwärtig das Credo der Union. Toller Spruch. Doch was genau Arbeit schafft, darüber lassen uns die Christdemokraten weiter im unklaren. Wiedervorlage vielleicht am 11. Juli, wenn sie ihr Wahlprogramm präsentieren. Doch auch das gibt keine endgültige Sicherheit, denn was Wahlprogramme wert sind, das wissen wir schließlich zur Genüge. Nichts. Die Union wird noch mächtig daran zu knabbern haben, wie sie das Dilemma mit ihrer großen Steuerreform und der Kopfpauschale im Gesundheitswesen auflöst. Ursprünglich versprach die Union nämlich Steuersenkungen. Das Konzept der Kopfpauschale ist andererseits nicht ohne Steuererhöhungen zu finanzieren. Lösung? Schaun mer mal.

Man kann trefflich über die richtige Wirtschaftspolitik streiten. Doch wie immer sie nach der Bundestagswahl konkret aussehen mag, an den ökonomischen Fakten kann man nicht vorbeiregieren. Andernfalls geht es weiter bergab. Fakt ist beispielsweise, daß in Deutschland die Reallöhne in den letzten zehn Jahren um 0,9 Prozent gesunken sind. [4] Die Leute, zumindest die kleinen, sparen nicht aus Angst. Das ist eine Mär. Sie haben schlicht und ergreifend zuwenig Geld in der Tasche. Vor diesem Hintergrund darf es nicht verwundern, wenn auf dem Binnenmarkt seit langem Flaute herrscht. Vielleicht hilft geschickte Parteipropaganda dabei, den Menschen noch mehr Geld aus der Tasche zu ziehen. Und möglicherweise ist die Union darin sogar geschickter als die SPD. Aber sie darf dann keinen Aufschwung erwarten, dazu braucht es mehr als bloß Rhetorik.



----------

[1] Heidenheimer Zeitung vom 21.06.2005
[2] Netzeitung vom 20.06.2005
[3] Die Welt vom 21.06.2005
[4] Frankfurter Rundschau vom 16.06.2005