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03. Juli 2005, von Michael Schöfer
Die Vertrauensfrage ist eine Farce


Der Bundeskanzler hat die Vertrauensfrage gestellt. Aber nicht mit dem festen Willen, das Vertrauen ausgesprochen zu bekommen, sondern vielmehr es erklärtermaßen verweigert zu bekommen und damit nach Art. 68 Abs. 1 GG Neuwahlen zu ermöglichen. Die sogenannte "unechte" Vertrauensfrage, die allerdings weder dem Wortlaut noch dem Geist der Verfassung entspricht. So haben ihm denn auch am 1. Juni verabredungsgemäß lediglich 151 Abgeordneten das Vertrauen ausgesprochen, zur Kanzlermehrheit von 301 Stimmen fehlten ihm somit 150 Stimmen.

Das Votum des Bundestages ist eine Farce, und alle Beteiligten wissen das. Aber die meisten spielen bei dieser verfassungsrechtlichen Farce mit. Zumindest die Mehrheit der Abgeordneten und die im Bundestag vertretenen Parteien. Ob der Bundespräsident oder die Verfassungsrichter der bewußten Vergewaltigung des Grundgesetzes zustimmen, ist vorerst offen. Vermutlich werden sie sich aber dem überwältigenden Willen der Bürger nicht verschließen und den Weg zu vorgezogenen Bundestagswahlen billigen. Dennoch sind ob des Verfahrens Zweifel an der Rechtmäßigkeit angebracht.

Gerhard Schröder habe "als Bundeskanzler das Vertrauen der SPD-Bundestagsfraktion", erläuterte SPD-Chef Müntefering dem verblüfften Publikum, bloß um es ihm dann am gleichen Tag demonstrativ vorzuenthalten. [1] Der Abgeordnete der Grünen, Werner Schulz, wies zu Recht darauf hin, daß die Regierungskoalition bislang 31mal die Kanzlermehrheit bringen mußte und sie auch 31mal gebracht hat. [2]

Insofern besteht selbst bei den gegenwärtig äußerst knappen Mehrheitsverhältnissen (SPD und Grüne verfügen zusammen über 304 von insgesamt 601 Bundestagsmandaten) kein verfassungsrechtlich zwingender Grund, gut eineinhalb Jahre vor dem regulären Wahltermin das Parlament aufzulösen. Hätte Rot-Grün wiederholt Abstimmungen verloren, wäre das etwas anderes gewesen. Dem war aber nicht so. Ob dem Bundespräsident oder dem Verfassungsgericht mutmaßliche künftige Niederlagen als Begründung ausreichen? Wir werden sehen.

Natürlich ist Rot-Grün wegen der Niederlagenserie bei Landtagswahlen schwer angeschlagen. Doch was sich daran durch Neuwahlen ändern soll, ist ehrlich gesagt völlig schleierhaft. Hätte Schröder Schwarz-Gelb ans Ruder lassen wollen, wäre sein Rücktritt die verfassungsrechtlich sauberste Lösung gewesen. Er will freilich die vorgezogenen Bundestagswahlen ausdrücklich gewinnen und von den Bürgern für seine - wie er sagt - "Reformpolitik" ein neues Mandat erteilt bekommen. Selbstverständlich ist hierbei der Amtsbonus ein Pfund, mit dem sich wuchern läßt. Vielleicht das letzte, über das Schröder noch verfügt.

Doch selbst wenn Rot-Grün bei den Wahlen wider Erwarten eine Mehrheit bekommen sollte, wird sich am politischen Stillstand kaum etwas ändern. Die Blockademehrheit der Union im Bundesrat wird ja durch Bundestagswahlen gar nicht tangiert. Der Hinweis des Kanzlers, der Bundesrat habe in der laufenden Wahlperiode nach abgeschlossenem Vermittlungsverfahren 29mal Einspruch gegen das entsprechende Gesetz eingelegt, geht folglich ins Leere. Er mag das aus seiner Sicht bedauern, aber Bundestagswahlen sind zur Beseitigung dieser Blockademehrheit ungeeignet.

Benachteiligt sind indes die kleinen Parteien. Laut Bundeswahlgesetz sind Parteien, die nicht mit mindestens fünf Abgeordneten im Bundestag oder einem der Landtage sitzen, verpflichtet, für ihre Wahlkreiskandidaten und Kandidatenlisten Unterstützungsunterschriften zu sammeln (für jeden der 299 Wahlkreise 200 Unterschriften; pro Landesliste 1 Tausendstel der Wahlberechtigten, höchstens jedoch 2.000 Unterschriften). Bei einem flächendeckenden Antreten wären das immerhin 87.704 Unterschriften. Normalerweise haben sie hierzu 13 Monate Zeit, bei vorgezogenen Bundestagswahlen schrumpft diese Frist natürlich auf ein Minimum zusammen. Die im Gesetz vorgesehen Fristen zur Einreichung von Kandidatenlisten wären bei einem Wahltermin am 18. September 2005 beispielsweise längst verstrichen. Vermutlich haben sie in diesem Jahr nur drei oder vier Wochen Zeit, die notwendige Anzahl an Unterstützungsunterschriften zu sammeln. Und das wohlgemerkt mitten in der Ferienzeit.


[Quelle: Bundeswahlleiter]

Die Chancengleichheit der Parteien ist somit durch das verfassungsrechtlich äußerst zweifelhafte Vorgehen des Bundeskanzlers nicht mehr gewährleistet. Ich bin gespannt, wie das die Verfassungsrichter bewerten.

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[1] Frankfurter Rundschau vom 02.07.2005
[2] Frankfurter Rundschau vom 01.07.2005