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21. August 2005, von Michael Schöfer
Wo gehobelt wird, fallen Späne...


...sagt der Volksmund. Über die Späne, die in Guantanamo und Abu Ghraib anfallen, wurde vielfach berichtet und dieser Sachverhalt bedarf eigentlich keiner Wiederholung. Mittlerweile gibt es jedoch auch in Europa höchst bedenkliche Entwicklungen. Nach den Anschlägen in London am 7. Juli 2005, bei denen 52 Menschen den Tod fanden, forderten Politiker, wie stets in derartigen Situationen, ein härteres Vorgehen gegen mutmaßliche Terroristen. Das kommt natürlich an - zumindest solange den Behörden keine gravierenden Fehler unterlaufen. Aber genau das ist in London kurz nach den Anschlägen passiert.

Am 27. Juli 2005 wurde der 27-jährigen brasilianische Elektriker Jean Charles de Menezes gemäß der "Shoot-to-Kill"-Richtlinie von Polizeibeamten mit sieben Kopfschüssen getötet, weil er sich angeblich äußerst verdächtig verhalten hat. Nach Polizeiangaben trug er einen auffällig langen Mantel, aus dem Drähte heraushingen. Die Befürchtung, dies sei ein Bombengürtel, de Menezes folglich ein Selbstmordattentäter, lag also durchaus nahe. Außerdem habe er die Eingangssperre der U-Bahn übersprungen und sei vor den Polizeibeamten geflüchtet. Die Kopfschußpraxis soll Terrorverdächtige sofort töten, noch bevor sie mitgeführte Sprengsätze zünden können. Das Verhalten der Polizei wurde damals Umfragen zufolge von 71 Prozent der Briten gebilligt.

Wie sich allerdings unterdessen anhand von Fotos und Videoaufnahmen herausgestellt hat, entspricht die Version der Londoner Polizei über das Verhalten des vermeintlichen Attentäters nicht der Wahrheit. De Menezes hat, wie die Aufnahmen belegen, gar keinen langen Mantel getragen, sondern vielmehr eine leichte Jeansjacke, die keinen Bombengürtel verbergen konnte und aus der zudem keine Drähte heraushingen. Überdies betrat der Brasilianer den U-Bahnhof mit gemächlichen Schritten und nahm dabei sogar noch eine Gratiszeitung mit. Erst dort sei er zu einem Zug gerannt und habe in einem Waggon Platz genommen. Ein Zeuge hat ausgesagt, de Menezes sei im Zug von einem Beamten überwältigt worden. "Wenig später schossen Polizisten Menezes mehrfach gezielt in den Kopf."

Der Verhalten der Polizei wirft Fragen auf. Eine Anwältin der Familie des Getöteten, Harriet Wistrich, stellt fest: "Es gab keinen Grund zur Vermutung, dass diese Person sich verdächtig benahm, dass der Mann vor der Polizei weglief." Warum wurde ein sich völlig unverdächtig verhaltender und bereits überwältigter Mensch dennoch von Polizeibeamten erschossen? Genügt dafür schon der subjektive Verdacht eines beteiligten Polizisten, der sich freilich, wie im vorliegenden Fall, am Ende als objektiv falsch herausstellt? Wistrich fragt: "In was für einer Art Gesellschaft leben wir denn, in der Verdächtige einfach exekutiert werden können?" [1] Und warum hat die Polizei eine nachweislich falsche Version verbreitet und damit die Öffentlichkeit belogen?

Auch in Deutschland bewegt sich etwas. Fragt sich bloß, ob in die richtige Richtung. So hat sich Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) kürzlich für eine sogenannte "Sicherungshaft" für ausländische Terrorverdächtige ausgesprochen. Schilys Vorstoß traf bei CDU und CSU prompt auf große Zustimmung. Die Sicherungshaft soll nach Schily vor allem für hochgefährliche Ausländer erwogen werden, die aus rechtlichen Gründen nicht abgeschoben werden könnten. "Es gehe um Personen, von denen die Behörden wüssten, dass sie eine Gefahr darstellten, gegen die man aber noch nicht genug in der Hand habe, um ein Strafverfahren einzuleiten. Es gehe nicht an, dass man die Gefahr in diesen Fällen sehenden Auges hinnehmen müsse."

Schily plant also quasi ein bundesdeutsches Guantanamo. Jemand vorbeugend und ohne ausreichende Beweise inhaftieren (für wie lange?) widerspricht zweifellos unseren erprobten Rechtsgrundsätzen. Denn worauf beruht dieses angebliche "Wissen" der Behörden? Genauer betrachtet sind das doch im wesentlichen nur Vermutungen respektive Unterstellungen. Damit kann man in einem demokratischen Rechtsstaat keinen Freiheitsentzug begründen. Gäbe es hingegen stichhaltige Beweise, wäre das etwas anderes. In diesem Fall käme es dann aber auch zu einem normalen Strafverfahren. Für das Aushebeln rechtsstaatlicher Sicherungen gibt es keinen vernünftigen Grund. Schilys Vorschlag verletzt die Menschenrechte und ist somit eindeutig verfassungswidrig.

Zuerst werden Menschen ohne Anklage und ohne ein ordentliches Gerichtsverfahren eingesperrt, allein aufgrund von vagen Verdächtigungen. In England hat man bereits einen Menschen erschossen. Völlig grundlos, wie wir jetzt wissen. Das ist der Anfang. Aber wo wird das Ganze enden? Der Terrorismus ist nicht dadurch zu besiegen, indem wir unsere demokratischen Prinzipien preisgeben. Uns dahin zu bringen, ist ja gerade die Absicht der Terroristen. Wir sollten ihnen klar machen, daß wir an unseren Prinzipien festhalten. Gleichgültig was sie uns antun.

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[1] Frankfurter Rundschau vom 18.08.2005