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11. September 2005, von Michael Schöfer
Die Lage ist dramatisch


Die Wirtschaft ist für den meist äußerst mangelhaft informierten Durchschnittsbürger ein Buch mit sieben Siegeln. Kein Wunder, daß er deshalb für die berechtigten Anliegen der Unternehmen wenig Verständnis aufbringt. So leiden die Verbraucher derzeit unter den zugegebenermaßen recht hohen Energiekosten. Nicht nur in Europa, selbst in den bislang von niedrigen Benzinpreisen verwöhnten USA stöhnen die Autofahrer über historische Höchststände an den Zapfsäulen. Und wen machen sie dafür verantwortlich? Die Ölmultis natürlich. Den gleichen Effekt erleben wir in bezug auf den Strompreis. Immer wird verständnislos auf den armen Energieversorgungsunternehmen herumgehackt. Dabei sind die doch vollkommen unschuldig. Ehrlich.

Zum Glück gibt es mutige Manager, die die Öffentlichkeit über die wahren Hintergründe aufklären. Beispielsweise Dr. Klaus Picard, seines Zeichens Direktor für Unternehmenskommunikation bei Shell. Die Preise an den Tankstellen sind laut Picard zweifellos gerechtfertigt. "Wegen der niedrigen Margen für Vermarktung und Gewinn sind die Unternehmen gezwungen, steigende Kosten an die Verbraucher weiterzugeben." [1] Aber die - Verzeihung - dämliche Kundschaft will das einfach nicht kapieren.

Im ersten Halbjahr 2005 hat seine Firma kümmerliche 11,9 Mrd. Dollar Gewinn gemacht. 11,9 Mrd. - wer kann davon leben? Die Aktionäre jedenfalls nicht. Doch auch die Konkurrenz darbt. Wenn das kein Trost ist. Der französische Ölkonzern Total fuhr nämlich im gleichen Zeitraum läppische 6,4 Mrd. Dollar ein, und die britische BP magere 12,2 Mrd. Lediglich Exxon geht es mit 15,5 Mrd. Dollar Gewinn ein kleines bißchen besser. Wahrscheinlich reicht wenigstens das für ein warmes Mittagessen auf der nächsten Hauptversammlung. Vermutlich müssen die Energiemultis angesichts solch desaströser Kennzahlen verstärkt Arbeitsplätze abbauen. Verstehen Sie jetzt, warum man an den Zapfsäulen keinen Spielraum für kleinere Preise hat? Wollen Sie denn noch mehr Arbeitsplätze auf dem Gewissen haben?

Beim Strom ist die Lage nicht anders. RWE hat im ersten Halbjahr 2005 einen Gewinn (Ebitda = Betriebsergebnis vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen) von 4,4 Mrd. Euro eingefahren. Kein Wunder, daß die Zahl der Mitarbeiter von 97.777 auf 86.540 sinken mußte. Bei Eon war der Gewinn mit 4,3 Mrd. fast genauso hoch. [2] Das geht gerade noch. Doch der schwedische Energiekonzern Vattenfall (Gewinn im ersten Halbjahr 1,5 Mrd. Euro) und die kleine EnBW (Gewinn im ersten Halbjahr 863,8 Mio. Euro) stehen offenbar kurz vor der Pleite, so schlecht geht's denen. [3] Strompreissenkungen kommen daher nicht in Frage, das muß Ihnen doch einleuchten.

Es wird Zeit, in Deutschland endlich wieder eine unternehmerfreundliche Kultur zu etablieren. Denn wir können uns die explosive Lage, die einerseits aus der böswilligen Konsumverweigerung wohlhabender Verbraucher und andererseits aus den enttäuschenden Gewinnmargen darbender Unternehmen resultiert, nicht länger leisten. Sonst geht Deutschland unter. Ach, was sage ich, sonst tauchen wir nie wieder auf. Denn die Lage ist ohne Zweifel dramatisch. Glauben Sie's jetzt?

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[1] Frankfurter Rundschau vom 10.09.2005
[2] Netzeitung vom 10.08.2005
[3] Verifox vom 28.07.2005 und Verifox vom 11.08.2005