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19. September 2005, von Michael Schöfer
Union im Bund strukturell mehrheitsunfähig


Die Bundestagswahl ist gelaufen. Das gute Abschneiden der Linkspartei (8,7 Prozent) verhinderte eine schwarz-gelbe Mehrheit. Das ist aber auch schon fast alles, was nach dem Wahlabend klar ist. Völlig unklar ist hingegen, wer künftig die Regierung bildet. Zwar kommen CDU und CSU gemeinsam auf 35,2 Prozent, doch kann selbst der beachtliche Erfolg der FDP (9,8 Prozent) den bürgerlichen Parteien nicht zu einer eigenen Mehrheit verhelfen. Mit 45 Prozent und 286 von 613 Bundestagsmandaten fehlen ihnen 21 Mandate zur Kanzlermehrheit (307 Stimmen). Aus eigener Kraft kann Angela Merkel also nicht Kanzlerin werden, daran wird auch die Nachwahl in Dresden nichts ändern.

Offenbar hat die Berufung von Paul Kirchhof der Union das Genick gebrochen. Die Deutschen stehen radikalen neoliberalen Experimenten mit deutlicher Skepsis gegenüber. Anders ist das Wahlergebnis gar nicht zu interpretieren. Sofern man die SPD überhaupt noch im linken Spektrum verortet, muß man feststellen, daß die Wählerinnen und Wähler dreimal in Folge (1998, 2002 und 2005) mehrheitlich links gewählt haben. Selbst eine Sozialdemokratie, die das Wahlvolk mit einer bislang beispiellos unsozialen Politik mächtig vor den Kopf gestoßen hat (Hartz IV), mithin so schlecht aufgestellt war wie nie zuvor, verhilft der Union im Bund nicht mehr zur Mehrheit. Aus der Schwäche des einen resultiert, wie man sieht, nicht automatisch die Stärke des anderen. Daher sollte sich die Union die Frage stellen, ob sie gegenwärtig nicht sogar strukturell mehrheitsunfähig ist. Wenn man gegen eine anerkannt miserable rot-grüne Politik verliert, bedarf das offenkundige Unvermögen, diesen Mißstand erfolgreich auszunutzen, zweifellos einer gründlichen Analyse.

Genauso eindeutig ist freilich: Rot-Grün wurde abgewählt. Mit 273 Bundestagsmandaten fehlen der SPD und den Grünen sogar 34 Mandate zur Kanzlermehrheit. Gerhard Schröder kann demzufolge ebenfalls nicht aus eigener Kraft Bundeskanzler bleiben. Beide Lager sind auf die partielle Zustimmung des jeweils anderen angewiesen. Entweder wird Rot-Grün von der FDP (Ampel) oder Schwarz-Gelb von den Grünen (Schwampel) gestützt. Zwar könnte theoretisch die Linkspartei den Part des Mehrheitsbeschaffers spielen, doch wird dies von allen Beteiligten kategorisch abgelehnt. Natürlich winken Ämter und Pöstchen. Wer sich aus dem eigenen Lager locken läßt und mit dem gegnerischen kollaboriert, nimmt allerdings ein hohes Risiko auf sich. Es droht möglicherweise eine Parteispaltung und/oder die schmerzliche Abstrafung durch den Wähler. Am wahrscheinlichsten ist deshalb die Große Koalition. Bloß unter welcher Führung? Merkel wird von der SPD nachdrücklich abgelehnt, umgekehrt kann sich die Union keine Regierungsbeteiligung unter Gerhard Schröder vorstellen. Die Verwirrung, wie es nun weitergeht, ist folglich immens.





[Quelle: Bundeswahlleiter / ohne Wahlkreis Dresden I]


Nach dem Grundgesetz (Artikel 63) wählt der Bundestag auf Vorschlag des Bundespräsidenten den Bundeskanzler. Gewählt ist, wer die Mehrheit der Mitglieder des Bundestags auf sich vereint (Kanzlermehrheit). Bereits hier fangen die Schwierigkeiten an: Wen wird der Bundespräsident vorschlagen, sollte es nicht vorher zu einer Einigung der Parteien kommen? Die Kandidatin der größten Fraktion (Merkel) oder den Kandidat der größten Partei (Schröder)? Und wer hat die besten Chancen, die Mehrheit der Mitglieder hinter sich zu scharen? Bündnispartner brauchen schließlich beide.

Wird die/der Vorgeschlagene nicht gewählt, findet innerhalb von 14 Tagen ein erneuter Versuch statt. Auch hier benötigt man die Kanzlermehrheit. Scheitert dieser Wahlgang ebenfalls, wird zum Bundeskanzler gewählt, wer die meisten Stimmen bekommt (einfache Mehrheit). Wird jedoch die Kanzlermehrheit verfehlt, kann der Bundespräsident den mit einfacher Mehrheit Gewählten ernennen oder den Bundestag auflösen. Letzteres führt unweigerlich zu Neuwahlen. Das Volk solange wählen lassen, bis das Ergebnis paßt, dürfte keine gangbare Strategie sein und würde zu erheblichem Verdruß unter den Wählern sorgen.

Gerhard Schröder wird sein Amt auf jeden Fall mit dem Zusammentreten des neuen Bundestages verlieren - es sei denn, Köhler ersucht ihn, aufgrund der unklaren Mehrheitsverhältnisse sein Amt weiter auszuüben (Artikel 69 GG). Der Bundespräsident hat also eine Schlüsselstellung inne: Er kann, sofern keine Einigung der Parteien zustande kommt, seine Parteifreundin Angela Merkel ernennen und ihr somit die Führung eines Minderheitskabinetts auferlegen. Das wäre ein Novum in der bundesdeutschen Geschichte. Es ist fraglich, ob man die Möglichkeiten, die das Grundgesetz bietet, wirklich ausreizt. Denkbar wäre es durchaus. Indes: Einen juristisch legalen Weg einzuschlagen, ist eine Sache, eine andere die Reaktion der Bevölkerung. Parteienverdruß gibt es wahrlich schon genug. Auch das sollte bedacht werden.

Am Ergebnis dieser Bundestagswahl werden wir noch viel zu knabbern haben. Es ist spannend wie nie zuvor, die Möglichkeiten sind weit gefächert. Vielleicht wartet noch so manche Überraschung auf uns. Auf den Maximalpositionen, die die Parteien jetzt lauthals verkünden, können sie nicht verharren. Durchsetzen wird sich am Ende ein Kompromiß. Fragt sich bloß, wer dabei die meisten Kröten schlucken muß.