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29. September 2005, von Michael Schöfer
Einkaufen bei Lidl?


Der Discounter Lidl (laut Verdi: Billig durch Ausbeutung) ist durch arbeitnehmerfeindliche Beschäftigungsverhältnisse in die Kritik geraten. In lediglich acht von 2.600 Filialen soll es nach Angaben der Gewerkschaft überhaupt Betriebsräte geben. "Verdi kritisiert seit geraumer Zeit einen "besonders brutalen Umgang" mit Beschäftigten und Lieferanten. Angst, Leistungsdruck und eine permanente Kontrolle "bis in intimste Bereiche" seien kennzeichnend für die Unternehmenspolitik von Lidl. Systematisch würden langjährige Beschäftigte gegen jüngere und billigere Arbeitnehmer ausgetauscht. Um missliebige Leute loszuwerden, werde ihnen Diebstahl unterstellt. Mit ständigen Taschenkontrollen und auch Überprüfungen der Privat-Pkw der Angestellten würden diese unter "Generalverdacht" gestellt. Nicht bezahlte Überstunden sind laut Verdi an der Tagesordnung. Es gebe kaum Pausen. Ein Gang zur Toilette sei für viele Kassiererinnen ein Luxus." [1]

Den Bock schießt Lidl jetzt aber mit dem Druck auf Zeitungsverlage ab, die nicht positiv genug über das Handelsunternehmen berichten. Bei den Badischen Neuesten Nachrichten (BNN) soll eine Redakteurin fristlos entlassen worden sein, weil sie kritisch über Lidl berichtete. Darauf hat jetzt u.a. LobbyControl aufmerksam gemacht. Das Weblog bezieht sich hierbei auf einen Bericht der Tageszeitung vom 28.09.2005. Die Redakteurin der BNN hätte in ihrer Berichterstattung das "Schwarzbuch Lidl" von Verdi erwähnt, das über den Billigheimer nichts Angenehmes zu berichten weiß. [siehe u.a. Verdi, Verdi-blog oder Attac] BNN-Betriebsrat Ralf Kattwinkel zufolge hat Lidl die Geschäftsführung der BNN einbestellt und mit dem Hinweis auf die großformatigen Lidl-Anzeigen erfolgreich Druck ausgeübt. Die BNN sei daraufhin eingeknickt und hätte der Redakteurin gekündigt. Offiziell erfolgte die Kündigung aus Tendenzgründen, weil die Journalistin gegen die vom Verleger vorgegebene Blattlinie verstoßen habe, berichtete die taz.

Wenn sich das tatsächlich bestätigen sollte, wirft das ein bezeichnendes Bild auf Lidl, aber ebenso auf die mangelhafte Unabhängigkeit der Presse. Unternehmen versuchen offenbar, mißliebige Informationen über ihr Geschäftsgebaren mit wirtschaftlichem Druck auf Presseorgane zu verhindern. Schlechte Nachrichten sind eben schlecht fürs Image. Aber anstatt die Verhältnisse im Unternehmen selbst zu ändern, versucht man mit höchst zweifelhaften Methoden die Berichterstattung darüber zu unterbinden. Etwas, das man gemeinhin in Bananenrepubliken vermutet, nicht jedoch in einer Demokratie, die auf ihre vermeintlich unabhängige Presselandschaft stolz ist. Wer derartige Methoden anwendet wird wohl auch gegenüber dem eigenen Personal keine Samthandschuhe anziehen. Die Vorwürfe von Verdi beruhen also offensichtlich zu Recht.

Was schließen wir daraus? Einkaufen bei Lidl - das sollte man sich wirklich überlegen.

Hilfreich wäre auch, bei den Badischen Neuesten Nachrichten per E-mail [Adresse: redaktion@bnn.de] nachzufragen, ob der Redakteurin wirklich wegen des Drucks von Lidl gekündigt wurde. Wenn das Blatt merkt, daß viele Menschen Kenntnis von diesem inakzeptablen Vorgang haben und sich darüber beschweren, baut das möglicherweise genug Gegendruck auf, um derartige Vorgänge künftig zu verhindern. Man sollte in der E-mail ausdrücklich betonen, daß man großen Wert auf eine unabhängige, kritische Presse legt. Die Kampagne von Attac gegen Software-Patente, bei der zur Versendung von E-mails an die Abgeordneten des Europäischen Parlaments aufgerufen wurde, war ein durchschlagender Erfolg. Tausende von Mails überzeugten die Abgeordneten und haben Software-Patente in der EU vorläufig verhindert. Protest hilft.

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[1] Frankfurter Rundschau vom 24.09.2005

Nachtrag I (04.10.2005):
Die BNN hat, von mir per E-mail auf die in der taz angeprangerte Entlassung der Redakteurin angesprochen, nachfolgende Stellungnahme übersandt:

Sehr geehrter Herr Schöfer,

bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir uns zu einem arbeitsrechtlichen Vorgang in unserem Hause nicht äußern können. Sehr wohl können wir aber sagen, dass die Darstellungen des Vorgangs, wie sie ein Karlsruher Sender und die Berliner TAZ verbreitet hat, in wesentlichen Aspekten verzerrt sind - und in anderen sogar komplett nicht der Wahrheit entsprechen.
Wir haben Verständnis dafür, dass Sie nach dieser Berichterstattung in Sorge versetzt sind. Wir nehmen Ihr Schreiben auch sehr ernst. Wir können Ihnen aber versichern: Wir sind eine freie Zeitung, sind überparteilich und in der Berichterstattungslinie von keinem Unternehmen – auch nicht von einem Anzeigenkunden – abhängig. Genauso ist es undenkbar, dass eine Firma auf unsere personellen Entscheidungen Einfluss nehmen oder uns in anderer Hinsicht unter Druck setzen kann.
Die Kontroverse über die besagte Discounterkette haben wir übrigens in der Vergangenheit immer wieder beleuchtet und werden dies auch in Zukunft tun.

Mit freundlichen Grüßen
gez.
Klaus Michael Baur
Herausgeber und Chefredakteur


Nachtrag II (17.10.2005):
Wie die Frankfurter Rundschau meldet, hat die BNN die Kündigung der Redakteurin zurückgenommen. "Es werde ein Vergleich angestrebt", heißt es jetzt. Und: "Die seit elf Jahren bei der BNN tätige Lokalredakteurin habe "Fehler eingeräumt", weshalb es zu einer "Neubesinnung auf beiden Seiten" gekommen sei. Aus der Entlassung soll nun eine Abmahnung werden und die Journalistin dieselbe Stelle "oder Adäquates" erhalten. Der DJV Baden-Württemberg sieht diese Einigung als Ergebnis öffentlichen Drucks. Nachdem einige Zeitungsberichte über die Kündigung erschienen waren, so DJV-Geschäftsführer Thomas Schelberg, hätten sich zahlreiche BNN-Leser beschwert. Sogar Abos sollen gekündigt worden sein." Die BNN hat stets bestritten, der Redakteurin auf Druck von Lidl gekündigt zu haben (der Discounter soll bei der BNN jährlich für 1,4 Mio. Euro Anzeigen schalten). Wie auch immer, der öffentliche Druck hat sich offenkundig als wirksam erwiesen. Arbeitsrechtlich dürfte die Sache damit erledigt sein, doch die Diskussion um den Einfluß der Wirtschaft auf die Presse muß weitergehen.