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07. Oktober 2005, von Michael Schöfer
Die Entmachtung der Oligarchen


Alexander Lebedew fürchtet um sein Eigentum. Die russische Staatsanwaltschaft hat gerade die Aktien von Iljuschin-Finanz, über die alle Aufträge und die Finanzierung des Iljuschin-Flugzeugkonzerns laufen, durch einen Gerichtsvollzieher beschlagnahmen lassen. Lebedew schließt nicht aus, daß der Kreml ihm seine Anteile an Iljuschin-Finanz und auch an weiteren bedeutenden Unternehmen wie der Luftverkehrsgesellschaft Aeroflot oder der Erdgasfirma Gasprom ganz wegnehmen will. [1] Vor einigen Tagen hat Gasprom, der russische Gasmonopolist, für 13,1 Mrd. Dollar die Mehrheit am Ölkonzern Sibneft gekauft. Nach dem Gasprom-Einstieg bei Sibneft liegen etwa 30 Prozent der russischen Ölproduktion in staatlicher Hand. [2] Wladimir Putins Ziel ist, dem russischen Staat die Mehrheit zu sichern. "Es geht um die Frage, wer die Verfügungsgewalt über die russischen Öl- und Gas-Ressourcen hat, die immerhin zu 40 Prozent das russische Staatsbudget füllen und 55 Prozent der Exportgewinne betragen." [3] Der Eigentümer von Sibneft, Milliardär Roman Abramowitsch (37), momentan mit geschätzten 5,7 Mrd. Dollar der reichste Mann in Putins Reich, hat seinen Anteil kampflos aufgegeben. Anders als der in einem Schauprozeß wegen Betrugs und Steuerhinterziehung zu acht Jahren Straflager verurteilte Michail Chodorkowski (42), dem die Staatsmacht außerdem in einem juristisch höchst zweifelhaften Verfahren die Ölfirma Jukos entriß. Niemand, so folgert Alexander Lebedew aus den Vorgängen, könne in Rußland seines Eigentums sicher sein.

Sämtliche Oligarchen sind während der Ära Boris Jelzins praktisch aus dem Nichts heraus zu sagenhaftem Reichtum gelangt. Michail Chodorkowski beispielsweise, einst Funktionär in der kommunistischen Jugendorganisation Komsomol, wurde vor seiner Verhaftung auf ein Vermögen von rund 15 Mrd. Dollar taxiert. 1989-1990 übernahm er den Vorsitz der Kommerziellen Innovationsbank für wissenschaftlich-technischen Fortschritt, sie war eine der ersten Privatbanken Rußlands. 1992 kaufte seine Bank die Firma NTTM und benannte sie in Menatep-Invest um. Chodorkowski wurde Generaldirektor und später Vorstandsvorsitzender. 1992 beriet er den russischen Ministerpräsidenten, 1993/1994 war er stellvertretender Minister für Brennstoffe und Energie sowie Mitglied des Rats für Industriepolitik bei der russischen Regierung. Als im Rahmen des loans for shares-Programms große Erdölunternehmen privatisiert wurden, erwarb Menatep-Invest 45 Prozent der Jukos-Aktien. "Obwohl der Wert des Ölkonzerns Jukos schon damals mehrere Milliarden Dollar betrug, zahlten Chodorkowski und seine Partner wohl nur 350 Millionen." [4]

Die Oligarchen "nutzten die chronische Finanznot des Staates, um auf Versteigerungen, deren Ausgang häufig im vorhinein feststand, billig an staatliche Großunternehmen zu kommen. Andererseits spielte der Staat unter Jelzin willig mit, um beispielsweise Unternehmen der Ölbranche nicht an Ausländer verkaufen zu müssen oder um, wie "Oberprivatisierer" Anatolij Tschubajs das Verscherbeln des sowjetischen Tafelsilbers begründete, die Transformation unumkehrbar zu machen. Im Gegenzug finanzierten die neuen Oligarchen dann Jelzins Wiederwahl (1996), um den Kommunisten Gennadij Sjuganow im Präsidentenamt zu verhindern." [5]

"30 Millionen Russen, also jeder Fünfte, leben unter der offiziellen Armutsgrenze." [6] Inoffizielle Schätzungen gehen sogar von 50 Prozent aus. Folglich haben die meisten Russen mit den Oligarchen kaum Mitleid. Kein Wunder, bei 140 Euro Durchschnittslohn. Viele sehen in den Neureichen vielmehr die Plünderer Rußlands. Präsident Wladimir Putin kann sich deshalb auf eine Mehrheit in der Bevölkerung stützen, wenn er mit aller Macht gegen die im Volk verhaßten Oligarchen vorgeht.

Die Motive Putins scheinen auf der Hand zu liegen: Die Macht der Oligarchen soll beschnitten, die des Staates dagegen zumindest in den strategisch wichtigen Sektoren der russischen Wirtschaft ausgebaut werden. Sein Handeln gleicht allerdings einer Gratwanderung. Die Erholung der russischen Wirtschaft nach der Finanzkrise von 1998, das Bruttoinlandsprodukt stieg 2004 real um beachtliche 7,2 Prozent, ist hauptsächlich auf die hohen Energiepreise zurückzuführen. Energieträger (Öl, Ölprodukte, Erdgas) machen 58 Prozent der russischen Exporte aus. Diese Einseitigkeit kann sich unter Umständen verheerend auswirken. Denn andere Sektoren, vor allem jene, die Investitionen aus dem Ausland benötigen, erfordern Sicherheiten, d.h. einen rechtsstaatlichen Rahmen, auf den man sich verlassen kann. Und genau den gefährdet Putin mit seiner Politik. Obendrein hält die ausländische Kritik an den autoritären Tendenzen (Stichwort Pressefreiheit, Stichwort Tschetschenien) berechtigterweise an. Ein Imageschaden ist hier noch das geringste Übel. Putins Sieg über die Oligarchen könnte sich somit eines Tages durchaus als Pyrrhussieg herausstellen.

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[1] Frankfurter Rundschau vom 07.10.2005
[2] Tagesschau.de vom 29.09.2005
[3] Kai Ehlers, Universität Kassel, Fachbereich 05, Frieden
[4] Tagesspiegel vom 15.05.2005
[5] FAZ.Net vom 31.05.2005
[6] ZDF vom 05.03.2004