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16. Oktober 2005, von Michael Schöfer
Die Enteignung des Individuums


Nicht zum ersten Mal wird in Deutschland über die aktive Sterbehilfe diskutiert. Schon im Jahr 2000, anläßlich der Einführung eines entsprechenden Gesetzes in den Niederlanden, hat man hierzulande heftig über das Pro und Contra gestritten. Viel passiert ist bislang jedoch nicht. Weder wurde die juristische Situation verändert, aktive Sterbehilfe ist in Deutschland nach wie vor strafbar (§ 216 StGB, Tötung auf Verlangen), noch hat sich die zuweilen mangelhafte Betreuung Sterbender grundsätzlich verbessert. Die Eröffnung eines deutschen Büros der Schweizer Sterbehilfeorganisation Dignitas und der Vorstoß des Hamburger Justizsenators Roger Kusch (CDU), der sich für die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe aussprach, haben die Frage jetzt erneut auf die Tagesordnung gesetzt. [1]

Das Für und Wider wurde mittlerweile hinreichend dargestellt. Den Befürwortern geht es im wesentlichen um die Verkürzung des manchmal sinnlosen Leidens unheilbar kranker Menschen. Schmerztherapien sind, z.B. bei krebskranken Patienten, nicht selten wirkungslos. Wenn das Leben zur unerträglichen Qual wird und eine Heilung völlig aussichtslos ist, sollten mit der Einwilligung des Betroffenen lebensbeendende Maßnahmen eingeleitet werden dürfen, sagen sie. Nach einer Forsa-Umfrage teilen fast drei Viertel der Bundesbürger diese Ansicht. Die Gegner verweisen hingegen auf ethische Bedenken. "Jeder Mensch hat das Recht auf Leben und auf ein Sterben in Würde. Alle Versuche zur Legalisierung aktiver Sterbehilfe sind daher strikt abzulehnen", fordert beispielsweise die evangelische Landesbischöfin Margot Käßmann. Sie warnen überdies vor dem Mißbrauch einer entsprechenden Erlaubnis.

Doch die allem zugrundeliegende philosophische Frage, wem das Individuum eigentlich gehört, bleibt dabei nach wie vor unbeantwortet. Vom Grundsatz her ist der Mensch für sein Handeln selbst verantwortlich, das ist nicht zuletzt das Resultat der Aufklärung. Häufig wird ja in den letzten Jahren wieder die "Eigenverantwortung" des Menschen betont und vor einer Entmündigung durch den Staat gewarnt, wenn es etwa um unser Sozialsystem geht. Aber ausgerechnet beim Sterben endet die vielfach propagierte Eigenverantwortung. Plötzlich kann das Individuum nicht mehr über sich selbst bestimmen, sondern wird quasi von der Gesellschaft seines eigenen Körpers enteignet. Wenn es um den Tod geht, dem notwendigerweise jeder für sich alleine begegnet, ist Eigenverantwortung auf einmal verpönt. Der Staat deklariert den Körper des Sterbenden flugs zum Allgemeingut, das der Verfügungsgewalt seines Besitzers entzogen ist.

Diese Haltung ist m.E. inkonsequent und unzulässig. Niemand gehört der Gesellschaft. Der Staat ist für die Menschen da, nicht umgekehrt. Daraus resultiert unweigerlich die alleinige Verfügungsgewalt des Individuums über sich selbst. Und diese Verfügungsgewalt endet nicht kurz vor dem Tod, vielmehr gehört sie bis zum Schluß zu seinem alleinigen Besitz. Die Gesellschaft hat schlicht und ergreifend nicht das Recht, das Individuum unmittelbar vor dem Ende seiner Existenz zu entmündigen. Aus diesem Grund sollte man die aktive Sterbehilfe endlich auch in Deutschland erlauben.

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[1] Die Welt vom 13.10.2005