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18. Oktober 2005, von Michael Schöfer
Es ist manchmal der Kontrast...


...der einem Umstand seine Bedeutung verleiht. Plötzlich erscheint uns in bestimmten Situationen das, was uns vorher überhaupt nicht aufgefallen ist, als besonders wertvoll. Nach langer Krankheit wissen wir den - meist gesunden - Normalzustand mit einem Mal viel mehr zu schätzen. Gelegentlich vermissen wir etwas erst, wenn wir es endgültig verloren haben. Nachdem die Beziehung vorbei ist, fällt uns auf, daß sie vielleicht doch nicht so schlecht war. Nun, das kennt wohl jeder. That's life.

Doch genau daran wurde ich erinnert, als ich heute vormittag die Zeitung aufschlug. Auf Seite fünf der Frankfurter Rundschau war nämlich zu lesen: "Mehr Hunger als je zuvor." Auf der Tagung der FAO (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen) in Rom wurde bekanntgegeben, daß "derzeit 852 Millionen Menschen in aller Welt Hunger leiden". So viele waren es noch nie. Insbesondere dem südlichen Afrika droht demnächst eine Hungersnot. "Allein in diesem Jahr sind nach Angaben des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP) bereits mehr als sechs Millionen Menschen verhungert, täglich sterben weitere 25.000, weil sie nicht genug zu essen haben."

Die internationale Gemeinschaft hat sich damit von den Zielen der im September 2000 durch 189 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen feierlich verabschiedeten "Millenniumserklärung" entfernt, anstatt sie - wie ursprünglich beabsichtigt - durch konkrete Taten einzulösen. Seinerzeit verpflichteten sich reiche und arme Länder, "alles daran zu setzen, um die Armut drastisch zu reduzieren, und Ziele wie die Achtung der menschlichen Würde, Gleichberechtigung, Demokratie, ökologische Nachhaltigkeit und Frieden, zu verwirklichen." Unter anderem nahmen sich die Nationen die "Bekämpfung von extremer Armut und Hunger" vor. Bis zum Jahr 2015 wollte man den Anteil der Menschen halbieren, "die weniger als 1 US-Dollar am Tag haben und ebenso den Anteil der Menschen, die Hunger leiden". Hehre Ziele, deren Verwirklichung allerdings viel schwerer ist als bloß eine Absichtserklärung zu unterzeichnen.

Den Kontrast dazu lieferte aber Seite neun meiner überaus geschätzten Rundschau. Dort konnte man nachlesen, daß das Geldvermögen der Bundesbürger im vergangenen Jahr um 154 Milliarden auf mittlerweile mehr als vier Billionen Euro angestiegen ist. Im Durchschnitt verfügt somit jeder Haushalt über gut 100.000 Euro. Gewiß, der Reichtum in Deutschland ist ungleich verteilt. Zwischen den reichsten Deutschen, den Brüdern Karl und Theo Albrecht (Aldi) mit einem Vermögen von 15,6 Mrd. bzw. 15,1 Mrd. Euro [1], und einem ALG II-Empfänger besteht zweifellos ein krasser Unterschied. (Beiläufig bemerkt: Irgend jemand muß sich meine 100.000 Euro unter den Nagel gerissen haben.)

Andererseits gibt es selbstverständlich vielfältige Ursachen der weltweiten Armut. Dazu gehören u.a. bewaffnete Konflikte, politische Unfähigkeit, brutale Unterdrückung, die allseits grassierende Korruption oder die unfaire Welthandelsordnung. Das Elend der Welt ist nicht monokausal auf eine einzige Ursache zurückzuführen. Vor diesem fatalen Schnellschuß sollte man sich also hüten. Aber es ist durchaus verständlich, wenn zur Zeit in Marokko Flüchtlinge die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla belagern, weil sie sich in Europa eine wirtschaftliche Existenz versprechen.

Wir können nicht alle Flüchtlinge aufnehmen. Das ist richtig. Doch das verlangt auch keiner. Nach Angaben des Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) waren Anfang des Jahres 19,2 Mio. Menschen auf der Flucht. Das sind die, die durch das Flüchtlingskommissariat unterstützt werden. Nach Schätzungen sollen sich hingegen insgesamt 44 Mio. Menschen auf der Flucht respektive in flüchtlingsähnlichen Situationen befinden. [2] Die Mehrheit dieses Flüchtlingsstroms zieht sowieso an Europa vorbei.

Dennoch wir sollten das Ziel, die globale Armut nachhaltig zu verringern, ernster nehmen als wir das in der Vergangenheit getan haben. Offensichtlich, wie das Anwachsen des Hungers in der Welt belegt, waren die bisherigen Maßnahmen unzureichend. Dazu brauchen wir eine Kultur des Teilens - national wie international. Und vielleicht auch eine Portion Bescheidenheit. Nicht alles haben wollen, nicht allem und jedem hinterher rennen - das könnte schon ein bißchen helfen.

Hey, und wer hat jetzt meine 100.000 Euro?

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[1] Spiegel-Online vom 11.10.2005
[2] UNHCR vom 18.07.2005