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| Impressum 20. Oktober 2005, von Michael Schöfer Peinlichkeitsskala jetzt in "Clement" Erdbeben werden bekanntlich mit der von Charles Francis Richter und Beno Gutenberg entwickelten sogenannten "Richterskala" gemessen. Häufig heißt es dazu fälschlicherweise, sie sei nach oben hin offen. Das stimmt jedoch nur theoretisch, denn aus physikalischen Gründen sind Erdbeben mit einer Stärke von mehr als 9,5 Punkten nahezu unmöglich, "da das Gestein nicht genug Energie speichern kann und sich vor Erreichen dieser Stärke entlädt". [1] Für politische Hetze gibt es freilich ebenfalls eine Skala - die der Peinlichkeit, deren Stärke allerdings nicht in Punkten, sondern neuerdings in "Clement" gemessen wird. Und im Gegensatz zur Richterskala scheint die "Clementskala" tatsächlich nach oben hin offen zu sein. Ein "Hetzbeben", das einem Erdbeben von mindestens 6 bis 6,9 Punkten entsprechen würde (Wikipedia: "wird von allen betroffenen Menschen mit großem Schrecken erlebt"), ereignete sich diese Woche in Berlin. Wolfgang Clement, scheidender Bundeswirtschaftsminister, hat einen Report seines Hauses verteidigt, in dem Arbeitslose unverschämter denn je diffamiert werden. "Vorrang für die Anständigen - Gegen Missbrauch, 'Abzocke' und Selbstbedienung im Sozialstaat", lautet die primitive Ansammlung von Vorurteilen, die Clement offenbar die Lufthoheit über den Stammtischen sichern soll. [2] Zitat: "Biologen verwenden für 'Organismen, die zeitweise oder dauerhaft zur Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen - ihren Wirten - leben', übereinstimmend die Bezeichnung 'Parasiten'. Natürlich ist es völlig unstatthaft, Begriffe aus dem Tierreich auf Menschen zu übertragen. Schließlich ist Sozialbetrug nicht durch die Natur bestimmt, sondern vom Willen des Einzelnen gesteuert. Wer den Grundstock seines Haushaltseinkommens bei der Arbeitsagentur oder der für das Arbeitslosengeld II zuständigen Behörde kassiert und im Hauptberuf oder nebenher schwarzarbeitet, handelt deshalb besonders verwerflich." (Seite 10) "Natürlich", wird politisch korrekt vermerkt, "ist es völlig unstatthaft, Begriffe aus dem Tierreich auf Menschen zu übertragen". Trotzdem macht man es. Augenzwinkernd vermutlich. Was hat die Verantwortlichen da bloß geritten? Der abwertende Vergleich von Menschen mit Tieren ist ja nicht neu, dergleichen fand man bereits im "Stürmer", einem antisemitischen Hetzblatt der Nazis. Auch an Franz-Josef Strauß ("Ratten und Schmeißfliegen") fühlt man sich erinnert. Sozialdemokrat Clement begibt sich in äußerst schlechte Gesellschaft. Hat er über dumpfe Vorurteile hinaus auch Fakten zu bieten? "Immer wieder mussten wir in den letzten Monaten Presseberichten entnehmen, wie der Sozialstaat durch Tricks und unwahre Angaben missbraucht wird", heißt es in Clements begleitender Ergänzung zum Report. [3] Clement liest vermutlich BILD, denn zumindest auf diesem Niveau bewegt sich seine Argumentationslinie. Zeitungsberichte sind beileibe keine Fakten. Er weiß das. "Wir haben auch recherchiert", versichert deshalb der sichtlich frustrierte Noch-Bundeswirtschaftsminister. "Nach diesen Stichproben (...) kann vermutet werden, dass die Arbeitslosigkeit derzeit um mindestens 10 Prozent überschätzt wird", folgert Clement. (Seite 7) Mit anderen Worten: Mindestens 10 Prozent beziehen Leistungen zu Unrecht, "mißbrauchen" oder "zocken ab", sind also der Diktion seines Ministeriums zufolge "Parasiten". Doch Clement "vermutet" nur, genau wissen tut er nichts. Mit Hermann Genz, Fachbereichsleiter Soziale Sicherung, Arbeitshilfen und Senioren bei der Stadt Mannheim, wird, anscheinend um die Argumentation Clements zu untermauern, ein Interview geführt, das man im Report des Ministeriums wiedergibt. Auszug: Genz: "Die öffentliche Fürsorge behält nur dann ihre Legitimation, wenn sie nachweisen kann, dass sie die wirklich Hilfebedürftigen unterstützt und Mitnahme und Betrug bekämpft." Frage: "Was tun Sie, wenn Sie jemanden erwischen?" Genz: "Die Mannheimer Linie lautet: Alles, was betrügerisch gegen das Gesetz verstößt, zeigen wir bei der Staatsanwaltschaft an, gleichgültig ob der finanzielle Schaden gering oder hoch ist. Im Bereich der Sozialhilfe haben wir 2004 etwa 400 Verfahren geführt und drei Viertel davon gewonnen." (Seite 25) In Mannheim, in dem der Herr Genz wirken darf, gab es am 30.11.2002 exakt 18.907 Sozialhilfeempfänger (Einwohnerzahl 299.636, Sozialhilfedichte 63,1 auf 1.000 Einwohner). [4] Das dürfte im Jahr 2004 nicht grundlegend anders gewesen sein. Legt man diese Zahl zugrunde und setzt sie mit den von Herrn Genz genannten etwa 300 Verfahren in Beziehung, die die Stadt Mannheim gegen Sozialmißbrauch geführt und gewonnen (!) hat, kommt man auf eine Mißbrauchsquote von lediglich 1,6 Prozent. Zwischen nachprüfbaren 1,6 Prozent und den von Clement "vermuteten" 10 Prozent liegt ein himmelweiter Unterschied. Daß Clement mit Zahlen auf Kriegsfuß steht, ist wahrlich keine neue Erkenntnis. Aber daß Stammtischparolen in einem offiziellen Ministeriumsbericht auftauchen, dürfte neu sein. Clement ist bekannt dafür, mehr mit einfältigen Sprüchen anstatt mit konkreten Leistungen zu glänzen. Erst kürzlich lobte er beispielsweise den Ausbildungspakt mit der Wirtschaft über den grünen Klee ("hat die Erwartungen, die wir in ihn gesetzt haben, erfüllt"), obgleich 40.900 Ausbildungsplatzbewerber unversorgt geblieben sind und das Angebot an gemeldeten Ausbildungsplätzen einen bedauerlichen Tiefstand erreicht hat. Wes Geistes Kind er ist, demonstriert seine Ergänzung: "Die Grundsicherung für Arbeitsuchende ist eine staatliche Fürsorgeleistung. Es sollen nur diejenigen Leistungen erhalten, die wirklich bedürftig sind. Deshalb ist beispielsweise nicht akzeptabel, wenn junge Erwachsene aus dem Haushalt ihrer Eltern ausziehen und eine eigene Bedarfsgemeinschaft gründen, nur um den erhöhten Regelsatz in Anspruch zu nehmen, und die Wohnung über die Grundsicherung finanziert zu bekommen." (Seite 10) Er suggeriert dem Leser, dieses Verhalten sei illegal. Das ist es jedoch nicht. Es ist hingegen völlig normal, wenn junge Erwachsene zu Hause ausziehen. Das gilt auch für "Mitglieder von Bedarfsgemeinschaften". Wie lange sollen denn junge Erwachsene seiner Meinung nach im Elternhaus bleiben? Bis die öffentlichen Haushalte saniert sind? Clements Äußerungen sind repräsentativ für den sozialpolitischen Kurs der gerade abgewählten rot-grünen Bundesregierung. Schließlich hat auch Bundeskanzler Gerhard Schröder Arbeitslose einst als "Faulenzer und Drückeberger" verunglimpft. Kein Wunder, wenn deren Politik in die Hartz-Gesetze mündete. Leider ist in dieser Beziehung von einer schwarz-roten Koalition keine Besserung zu erwarten. Clement geht, die Misere bleibt. ---------- [1] Wikipedia, Richterskala [2] BMWA, PDF-Datei mit 184 kb [3] BMWA, PDF-Datei mit 112 kb, Seite 4 [4] Stadt Mannheim, "Benchmarking der mittleren Großstädte der Bundesrepublik Deutschland", PDF-Datei mit 673 kb, Seite 7 u. 12 |