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21. Oktober 2005, von Michael Schöfer
Wahnsinn Studiengebühren


Haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, warum kanadische oder russische Eishockeymannschaften im Gegensatz zu deutschen so erfolgreich sind? Biologisch betrachtet sind Kanadier oder Russen für die - neben American Football - wohl härteste Mannschaftssportart der Welt nämlich keineswegs prädestiniert. Doch da Eishockey in Kanada und Rußland Nationalsport ist, können die dortigen Verbände aus einem schier unerschöpflichen Reservoir an Nachwuchsspielern schöpfen. Es gelangen dort eben wesentlich mehr Talente an die Spitze, als das im vergleichsweise kleinen deutschen Nationalverband der Fall ist.

Einmal angenommen: Wenn ein Land insgesamt 2 Millionen Hobbyspieler besitzt (Kanada hat 32 Mio. Einwohner, die USA haben 295 Mio.), von denen lediglich 0,1 Prozent das Niveau der ersten Liga erreichen, verfügt man immerhin über 2.000 echte Spitzenspieler. Mehr als die NHL, die nordamerikanische "National Hockey League", der 30 Mannschaften aus den USA und Kanada angehören, überhaupt aufnehmen kann. Das macht auch ihre Stärke aus: Um in die NHL reinzukommen und in ihr mitspielen zu dürfen, muß man wirklich außerordentlich gut sein. Ist das Reservoir dagegen vergleichsweise klein, sagen wir insgesamt 50.000 Spieler, erreichen bei gleicher prozentualer Ausbeute bloß 50 Spieler das entsprechende Niveau. Damit läßt sich gerade mal der Kader von zwei Vereinsmannschaften (jeweils rund 25 Spieler) zusammenstellen. Logisch, nicht?

Deutschland ist ein Land ohne Rohstoffe, wir leben ausschließlich von unseren Fähigkeiten. Das wird uns von den Politikern auch immer wieder eingeschärft. Was die Ergebnisse unserer intellektuellen Leistungen angeht, meßbar etwa am Exporterfolg der Wirtschaft, aber ebenso an der Anzahl der Patente oder der Nobelpreisträger, stehen wir auf der Weltrangliste ganz weit oben. Bedauerlicherweise setzt die Politik entgegen ihren vollmundigen Bekundungen momentan alles daran, diese Leistungen in Zukunft zu schmälern.

Die meisten Bundesländer führen gerade nach und nach Studiengebühren ein, Niedersachsen verlangt beispielsweise neuerdings pro Semester 500 Euro. Außerdem hat die designierte Bundesbildungsministerin, Annette Schavan, früher stets angekündigt, daß die CDU im Falle eines Wahlsieges das BAföG, die staatliche Unterstützung der Studenten nach dem BundesAusbildungsrderungsGesetz, abschaffen möchte. [1] Ob es zur Abschaffung des BAföG nach dem Wahlausgang vom 18. September noch kommt, ist aber fraglich. Dazu muß man erst die Koalitionsverhandlungen von Union und SPD abwarten.

Wie dem auch sei, das Studium wird sich jedenfalls demnächst, bei möglicherweise gleichzeitig abnehmender Unterstützung durch den Staat, beträchtlich verteuern. "Bis zu 90.000 Euro müssten junge Menschen in Zukunft für ein Studium aufbringen. Doch weder Staat noch Banken haben bisher ein Konzept zur Finanzierung", schreibt etwa der Stern vom 11.02.2005 und belegt dies mit Beispielrechnungen. 90.000 Euro sind gewiß extrem, aber selbst ein Viertel davon, knapp über 20.000 Euro, sind noch genug. Angeblich soll das Ganze, wie in den USA üblich, mit Stipendien aufgefangen werden. Sicher ist das freilich nicht, denn diese Form der Studienförderung ist hierzulande traditionell unterentwickelt. Und es ist bislang völlig ungewiß, ob je in ausreichendem Maße Stipendien zur Verfügung stehen werden.

Was sind die voraussichtlichen Folgen? Nun, die Aussicht, nach dem Ende des Studiums auf einem großen Berg Schulden zu sitzen, wird viele vom Studium abhalten. Insbesondere Menschen aus wenig begüterten Schichten werden sich zweimal überlegen, ob sie unter diesen Umständen überhaupt studieren sollen. Studierende aus begüterten Elternhäusern werden dagegen kaum Probleme haben. Die Entscheidung über das Studium richtet sich daher in Zukunft wieder vermehrt nach dem Einkommen der Eltern, und nicht nach dem Talent der Studierenden.

Studienplätze lassen sich kaufen, Begabung sicherlich nicht. Mit anderen Worten: Das Reservoir an Begabungen, aus dem man schöpfen kann, wird künstlich verringert. Entsprechend sehen vermutlich die Ergebnisse aus. Die plausible Folge: Weniger Input = weniger Output. Wie beim Eishockey. Für ein Land, das mehr als andere auf seine intellektuellen Leistungen angewiesen ist, ein verhängnisvoller Fehler. Wir könnten aus der ersten Liga abrutschen.

Aus alledem gibt es nur eine Konsequenz: Keine Einführung von Studiengebühren, Beibehaltung des BAföG. Bildung, übrigens nicht nur an den Universitäten, ist eine Aufgabe, die die Gesellschaft in ureigenstem Interesse gebührenfrei zu erbringen hat. Dieser Aufwand muß aus Steuermitteln bereitgestellt werden. Wenn der Staat sich aus der Finanzierung der Bildung peu a peu zurückzieht und diese Aufgabe über die Erhebung von Gebühren quasi privatisiert, werden die Folgen fatal sein. Über die Zukunft unserer Kinder wird viel geredet. Doch die Politik ist gerade dabei, sie zu zerstören.

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[1] Stern vom 16.07.2003

Nachtrag (16.12.2007):
Die Zahl der Studienanfänger ist 2007 erstmals seit vier Jahren wieder gestiegen - und zwar um 3,8 Prozent auf 358 217. In Bundesländern ohne Studiengebühren fiel der Anstieg der Anfängerzahl im Schnitt deutlich größer aus. Aus Ländern mit Gebühren wird dagegen in der Regel nur ein geringer Zuwachs oder gar ein Rückgang gemeldet. [2]

[2] Frankfurter Rundschau vom 13.12.2007