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01. November 2005, von Michael Schöfer
Lafontaines Wiedergänger


Was haben sie nicht alles über ihm ausgeschüttet - kübelweise Hohn und Spott. Er sei "als Superminister aus dem Amt geflüchtet". Verächtlich brachen sie über ihn den Stab: "Solche Leute haben in der Politik nichts mehr verloren!", lautete beispielsweise Edmund Stoibers Verdikt über Oskar Lafontaine. [1] Er habe bei seinem überraschenden Rücktritt im Jahr 1999 "die Partei verraten" [2], den SPD-Vorsitz unehrenhaft "weggeworfen", sein Verhalten sei außerdem "eitel und unsolidarisch" und man werde noch sehen, "er wird grandios scheitern und er wird einsam und ziemlich alleine in der Ecke stehen", schrieb Franz Müntefering seinem Vor-Vorgänger nach dessen spektakulärem Comebackversuch ins Stammbuch. [3] Und jetzt? Jetzt gehen sie selbst, nicht der von ihnen heftig gescholtene "Napoleon von der Saar".

Müntefering wirft der SPD nach einer Abstimmungsniederlage im Bundesvorstand, bei der sein Kandidat für den Generalsekretärsposten eine deutliche Abfuhr hinnehmen mußte, völlig überraschend den Vorsitz vor die Füße. Gewissermaßen ein Abgang a la Lafontaine. Stoiber wiederum beschließt daraufhin nicht weniger verblüffend, lieber in Bayern zu bleiben und doch nicht ins Bundeswirtschaftsministerium zu wechseln. Der ewige Zauderer, der lieber zu Hause den Fürst spielt, anstatt in der Fremde als Diener einer ungeliebten Herrin zu agieren. Erwin Huber und Günther Beckstein, beide schon in den Startlöchern für Stoibers Nachfolge im Amt des bayerischen Ministerpräsidenten, bekommen nun abrupt die rote Karte gezeigt. Nix is. Marsch, marsch, zurück ins Glied. Und das "Mädchen" (Angela Merkel) steht in Berlin allein auf weiter Flur und darf darüber nachdenken, wie sie dennoch ihre Regierung zusammenbekommt.

Kaum hatte sich die SPD im Zuge der Koalitionsverhandlungen einigermaßen gefangen, löst ihr Vorsitzender unvermittelt die nächste Krise aus. Müntefering stürzt jedoch mit seinem jähen Rücktritt nicht nur die SPD noch tiefer in den Schlamassel, sondern hat darüber hinaus möglicherweise eine veritable Staatskrise im Schlepptau. Die ersten Kommentatoren sehen nämlich gleich die große Koalition zur Disposition gestellt, und es wird bereits heftig über Neuwahlen im nächsten März spekuliert. Ob Schwarz-Rot zustande kommt, wenn eine profilierte Linke (Andrea Nahles) Generalsekretärin wird, ist in der Tat fraglich. Für die SPD wäre das allerdings der Supergau. Der Druck, der zum Eintritt in die Regierung ermahnt, ist enorm. Doch wie lange kann sie unter diesen Umständen überhaupt halten? Der Union kommt die Krise der SPD paradoxerweise ziemlich ungelegen - es sei denn, man rechnet sich dort insgeheim neue Chancen für Schwarz-Gelb aus. Sehnsucht nach Neuwahlen - Westerwelle wird's freuen. Aber noch ist nicht aller Tage Abend. Mit anderen Worten: Eine Schwalbe (Nahles) macht noch keinen Sommer (aus der SPD wieder eine linke Volkspartei).

Wenn eine Koalition unter solch heftigen Geburtswehen leidet, läßt das nichts Gutes erwarten. Bislang erschöpft sich Schwarz-Rot fast ausschließlich in Personalien. Über die konkreten Pläne der künftigen Regierung ist hingegen kaum etwas bekannt geworden. Man darf somit weiter kräftig im Nebel herumstochern. Doch bis Mitte November müssen beide Parteien zu Potte kommen, viel Zeit steht also nicht mehr zur Verfügung. Groteske Personalpirouetten lenken da nur ab. Sollte am Ende, was Andeutungen aus dem Kreis der Unterhändler befürchten lassen, lediglich eine nachfragetötende "Blut, Schweiß und Tränen"-Politik herauskommen, paßt das wenigstens ins bisher gezeigte Bild. Die Zweifel über die Sinnhaftigkeit von Schwarz-Rot scheinen sich zu bestätigen.

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[1] Süddeutsche Zeitung vom 10.07.2005
[2] ZDF, Sommerinterview vom 24.07.2005
[3] Stern vom 09.08.2005