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21. Dezember 2005, von Michael Schöfer
Dummdreiste Rechtfertigung


Immer wieder kommt man in Talk-Shows oder politischen Diskussionsrunden auf das Thema Folter zurück. Fast ausnahmslos wird Folter hierbei als menschenverachtend bezeichnet und kategorisch abgelehnt. Aber genauso oft werden dann von den gleichen Leuten Beispiele genannt, in welchen Situationen sie vielleicht doch angebracht sei. Nicht als legales gesetzliches Instrument, sondern als übergesetzlicher Notstand. Gewissermaßen der letzte Notnagel des Staates. Im Grunde zwar verabscheuungswürdig, nichtsdestotrotz zuweilen recht nützlich.

Beliebtes Beispiel ist der böse Terrorist, den man gefaßt hat und von dem man alles weiß. Vor allem, daß er in einer Großstadt eine Atombombe deponiert hat. Nur eines hat man aus ihm noch nicht herausbekommen: wo die Bombe versteckt ist. Und dann zweifeln selbst wohlmeinende Journalisten und Politiker, ob in diesem speziellen Fall Folter nicht doch erlaubt ist. Was zählt schon, so ihre Argumentation, das Leben eines einzelnen gegen das Leben von Millionen.

Wenn man die Anwendung von Folter auf diese Extremsituation reduziert, bekommen die meisten Menschen Zweifel, ob man nicht doch ein bißchen foltern darf. Allerdings ist diese Extremsituation konstruiert und geht völlig an der Realität vorbei. Spätestens seit dem 11. September 2001 wird in der westlichen Wertegemeinschaft wieder gefoltert. Wie viele Atombombenanschläge auf Großstädte hat man seitdem durch die Anwendung der Folter verhindert? Wie viele derartige Extremsituationen gab es überhaupt? Man weiß es nicht. Aber da die Behörden einen solchen Erfolg gewiß propagandistisch ausgeschlachtet hätten, wird es wohl kein einziger gewesen sein. Gefoltert wird aber auch so - ganz ohne einen unmittelbar bevorstehenden Massenmord. Mit der künstlich konstruierten Anschlagssituation soll Folter lediglich hoffähig gemacht werden. Denn wenn man sie in einer bestimmten Situation anwenden darf, ist der Rubikon überschritten. Dann ist sie für die Bevölkerung vielleicht auch in anderen Situationen akzeptabel.

Seit Jahren sind viele namenlose Menschen der Folter schutzlos ausgeliefert und haben keinerlei Gelegenheit, ihre unveräußerlichen Menschenrechte einzuklagen. Wie viele unterdessen daran gestorben sind, ist unbekannt. Etliche verschwanden im amerikanischen Gulag und tauchten nie wieder auf. Folter ist fast schon zur Regel geworden. Unter anderem deshalb hat man früher die Sowjetunion kritisiert. Zu Recht. Doch jetzt praktiziert man es selbst. Mittlerweile werden sogar illegale staatliche Maßnahmen offen gerechtfertigt. Hat nicht US-Präsident George W. Bush gerade die verbotenen Abhörmaßnahmen der NSA (National Security Agency) mit dem Schutz der US-Bürger gerechtfertigt? Und will er sie nicht, obgleich sie gesetzwidrig sind, dennoch fortführen? Offenbar spielen Gesetzesverstöße keine Rolle mehr. Man braucht nur die richtige Begründung, schon ist praktisch alles erlaubt.

Darüber hinaus wird dabei ein wichtiger Aspekt stets übersehen. Es wird nämlich immer unterstellt, daß der vermeintliche Terrorist wirklich ein Terrorist ist. Wie kann man da so sicher sein? Was ist, wenn man einen Unschuldigen foltert? Völlig auszuschließen ist so etwas ja nicht. Und dann? Foltert man ihn so lange, bis er zugibt, was er im Grunde gar nicht gestehen kann? Menschen, die gefoltert werden, das belegen die Erfahrungen aus Jahrhunderten, gestehen irgendwann alles, bloß um der Qual zu entgehen. Die Befürworter der Folter haben vieles nicht zu Ende gedacht.

Wir sind auf einem extrem gefährlichen Weg. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Folter praktiziert wird. Doch der Zweck heiligt nicht die Mittel. Wenn man sich den Methoden der Terroristen bedient, begibt man sich auf deren Stufe. Unrecht darf nicht mit Unrecht vergolten werden, Mord nicht mit Mord und Folter nicht mit Folter. Das moralische Lavieren in der Folterfrage zeigt, wie verrottet unsere Gesellschaft inzwischen ist. Würden wir denn genauso foltern, wenn uns die OPEC den Ölhahn zudreht? Immerhin wäre damit der Lebensnerv der Industriegesellschaft getroffen. Ist der Konsum, vor allem in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, nicht wichtiger als die Menschenrechte? Bekanntlich kommt erst das Fressen, dann die Moral. Leider würde die Folter auch in dieser Situation viele Befürworter finden.

Große Reiche sind an solchen inneren Widersprüchen zugrunde gegangen. Weil sich nur wenige fanden, die das Gesetz verteidigten. Die meisten haben sich nur noch für Partikularinteressen stark gemacht, das Schicksal der anderen war ihnen völlig gleichgültig. Doch wenn der Kitt bröckelt, fallen unweigerlich Scheiben aus dem Fensterrahmen. Sie zerbrechen. Und wie sieht es mit dem gesellschaftlichen Kitt aus? Der bröckelt ebenfalls, wie man an der Diskussion über die Folter sehen kann.