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20. Januar 2006, von Michael Schöfer
Chirac droht mit Atomwaffen


Frankreichs Präsident Jacques Chirac hat jetzt unverblümt mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht, sollte jemand "die Lebensinteressen Frankreichs und seiner Alliierten" gefährden. Hierzu zählte er Staaten, "die gegen uns auf terroristische Mittel zurückgreifen". Wer das tue, müsse sich auf eine "entschlossene und angepaßte Antwort" einstellen. Und dabei schließt Chirac den Einsatz der französischen Atomstreitmacht "Force de Frappe" nicht aus.

Die Äußerungen des französischen Staatspräsidenten wurden überwiegend mit Kritik bedacht, obgleich er im Grunde bloß die nach wie vor gültige Abschreckungsdoktrin bekräftigte. Natürlich müssen Staaten, die sich Atomwaffen beschaffen, mit massiven Vergeltungsschlägen rechnen, sollten sie diese jemals benutzen. Den Einsatz von Atomwaffen, beispielsweise gegen Israel, würde der Iran kaum überleben. Dies ist Fakt, ob man die Abschreckungsdoktrin nun billigt oder nicht. Alles andere wäre unglaubwürdig und lebensfremd. Insofern hat Chirac also nichts wesentlich Neues gesagt.

In einer Welt, in der immer mehr Staaten den Besitz von Atomwaffen anstreben, wächst logischerweise die Gefahr, daß diese Massenvernichtungsmittel irgendwann eingesetzt werden. Die bipolare Welt des Kalten Krieges war im Gegensatz dazu vergleichsweise leicht zu kontrollieren. Doch selbst hier stand die Welt zuweilen, etwa während der Kuba-Krise, am Rand eines Atomkrieges. Bei acht Atommächten ist das Versagen der Abschreckung eben weniger wahrscheinlich als bei 20 Atommächten - vor allem wenn etliche davon, was die Rationalität ihres Handelns angeht, einen äußerst zweifelhaften Ruf genießen. Gerade deshalb ist es so wichtig, den Club der Nuklearmächte möglichst klein zu halten.

Allerdings sind wir heute einer neuen Form der Bedrohung ausgesetzt. Häufig stehen sich nicht mehr Staaten oder Staatengruppen feindlich gegenüber (symmetrischer Konflikt), sondern Staaten und netzwerkartig organisierte Terrorgruppen (asymmetrischer Konflikt). Letztere sind überall und nirgendwo zuhause. Hier scheitert die nukleare Abschreckung, weil der Gegner im verborgenen agiert. Zielplanung im herkömmlichen Sinne ist somit - in Ermangelung von konkreten Zielen - gar nicht möglich. Als Vergeltung eines Terroranschlags eine x-beliebige Stadt atomar anzugreifen, macht einfach keinen Sinn (ethische Aspekte lassen wir einmal bewußt außen vor).

Das war unter rationalen Gesichtspunkten schon innerhalb der bislang gültigen Abschreckungsdoktrin unvernünftig, weil in einem solchen Fall die Abschreckung ja bereits versagt hatte und nur noch primitive Rachegefühle ihrer Befriedigung harrten. Doch machen wir uns nichts vor, diese Form der Vergeltung wäre aus emotionalen Gründen wohl kaum unterblieben. Asymmetrische Konflikte sind daher hauptsächlich eine Angelegenheit der Geheimdienste und der Polizeibehörden. Armeen, das belegen u.a. die Erfahrungen der USA im Irak, können hier relativ wenig ausrichten.

Folglich sollte man Chiracs Äußerung differenziert betrachten. Einerseits als eindringliche Warnung an Staaten, die den Besitz von Massenvernichtungsmitteln anstreben. Und andererseits als Signal an Terrorgruppen, daß sie eine "entschlossene und angepaßte Antwort" erhalten. Ob Chirac in seiner Rede auch den Einsatz von Atomwaffen gegen Staaten angedroht hat, die keine Massenvernichtungsmittel besitzen, sondern "lediglich" den internationalen Terror unterstützen, muß vorerst, bis wir den genauen Wortlaut kennen, offen bleiben. Gleichwohl stellt sich die berechtigte Frage, ob seine Äußerungen in der jetzigen Situation hilfreich waren. Deeskalierend sind sie sicherlich nicht. Den schwelenden Konflikt mit dem Iran anzuheizen, ist gewiß unklug. Mißverständliche Formulierungen wirken nämlich oft kontraproduktiv. Ein erfahrener Staatspräsident müßte so etwas eigentlich wissen.