Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



26. März 2006, von Michael Schöfer
Politik der Widersprüche

Weiß die Bundeskanzlerin eigentlich, was sie will? Im Wahlkampf lautete das Motto Angela Merkels noch "Sozial ist, was Arbeit schafft". Nun haben schon die Regierungen Kohl und Schröder vergeblich versucht, mit Unternehmenssteuersenkungen den Arbeitsmarkt zu beleben. Der Theorie zufolge würden die Unternehmen die aus der Entlastung resultierenden höheren Gewinne für Investitionen verwenden, woraus wiederum die dringend benötigten Arbeitsplätze entstehen sollten. "Entscheidend ist, was hinten herauskommt", behauptete Helmut Kohl stets. Gib den Pferden (Unternehmen) ordentlich zu fressen, dann fällt hinten auch etwas für die Vögel (Arbeitnehmer u. Arbeitslosen) ab. Das Ganze hatte bloß einen Haken: Die Pferdeäpfel-Theorie versagte.

Zwar hat Deutschland im Jahr 2005 abermals mit einem Außenhandelsrekord (786,1 Milliarden Euro) und einem Außenhandelsbilanzrekordüberschuß (160,5 Milliarden Euro) geglänzt, doch kommen die erwirtschafteten Gewinne bei den Arbeitnehmern nicht mehr in Form von Reallohnsteigerungen an. Die realen tariflichen Stundenlöhne der Arbeiter sind nämlich im vorigen Jahr um 0,8 Prozent gesunken, die realen Monatsgehälter der Angestellten fielen um 0,7 Prozent. [1] Absahnen tun vor allem die Aktionäre und die Manager. Folge: Der Binnenmarkt liegt mangels Kaufkraft danieder, das Wachstum ist bescheiden und die Arbeitslosenzahl hat sich bei 5 Mio. eingependelt.

"Die Gewinne der 30 führenden Konzerne in Deutschland machen gewaltige Sätze nach oben. Sie sind im Jahr 2005 um 36 Prozent auf 51 Milliarden Euro gestiegen - so stark wie noch nie zuvor", schrieb die Frankfurter Rundschau am 24.03.2006. "Dabei sinkt jedoch die Zahl der im Inland Beschäftigten. Ein Beispiel ist die Allianz [Gewinn nach Steuern 4,38 Mrd. Euro, ein Plus von 94 Prozent], die im Inland 3.500 Stellen abbaut." Spitzenreiter bei den Vorstandsgehältern ist nach wie vor Josef Ackermann (Deutsche Bank), dessen Bezüge um 18 Prozent auf 11,9 Mio. Euro gestiegen sind. Die Eigenkapitalrendite seines Hauses betrug beachtliche 24,7 Prozent [Gewinn nach Steuern 3,53 Mrd. Euro, ein Plus von 41 Prozent], die Zahl der Mitarbeiter reduzierte sich allerdings um 1.666. Das ist ein schlagender Beweis für das Versagen neoliberaler Wirtschaftspolitik.

Nach dem gleichen, aber erkennbar wirkungslosen Rezept verfährt jetzt auch die Regierung Merkel. Offenbar will die Union den Arbeitgeberanteil bei den Krankenversicherungsbeiträgen weiter senken. Der Beitragssatz der Arbeitgeber soll Pressemeldungen zufolge bei 6,5 Prozent (heute 6,65 Prozent) eingefroren werden, mögliche Beitragserhöhungen gingen dann in Zukunft komplett zu Lasten der Arbeitnehmer. [2] Dies ist nur ein Beispiel der inkonsistenten Politik der großen Koalition. Es wird zwar viel von der Stärkung der Massenkaufkraft gesprochen, doch in praxi permanent das Gegenteil beschlossen. Und der absolute Hammer kommt mit der dreiprozentigen Mehrwertsteuererhöhung im Jahr 2007.

Die Bundeskanzlerin verbreitet das Gefühl von Harmonie, was ihr momentan bei den Umfragewerten zugute kommt. Den Bürgern wird deshalb gar nicht bewußt, wie widersprüchlich das Handeln der Regierenden ist. Und diese Widersprüchlichkeit beschränkt sich beileibe nicht nur auf die Wirtschaftspolitik. Beispiel: Einerseits sollen Einbürgerungswillige diffizile Fragenkataloge abarbeiten, andererseits werden die Mittel für Sprach- und Integrationskurse um ein Drittel gestrichen. [3] Man greift sich an den Kopf. Das Chaos der Regierung Schröder ist also nur scheinbar überwunden, es wird in der Öffentlichkeit bloß nicht mehr so viel darüber geredet. Aufgehört hat lediglich die Kakophonie der sich widersprechenden Verlautbarungen. Die "gefühlte Harmonie" mag noch eine Weile halten, wenn freilich die negative Ergebnisse ans Tageslicht kommen, wird Angela Merkel vom Spitzenplatz der Demoskopie herabsteigen. Herabsteigen? Nein, herabstürzen wird sie.

----------

[1] Frankfurter Rundschau vom 28.01.2006
[2] Tagesschau.de vom 25.03.2006
[3] Frankfurter Rundschau vom 22.03.2006