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15. Mai 2006, von Michael Schöfer
Demokratischer Zentralismus


Demokratie bedeutet nicht bloß die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit, sondern ist gleichbedeutend mit dem Schutz der Minderheit vor der Macht der Mehrheit. Mehrheiten bedürfen in der Regel keines besonderen Schutzes, da sie in einer Demokratie sowieso dominieren. Minderheiten müssen dagegen vor der Willkür der Mehrheit geschützt werden. Gäbe es keinen Minderheitenschutz, also keine Regeln, die - unabhängig von ihrer jeweiligen Stärke - für alle Gruppen verbindlich sind, wäre dem Machtmißbrauch Tür und Tor geöffnet.

Nach dieser Logik darf eine Mehrheit, und sei sie auch noch so groß, der Minderheit bestimmte Schutzrechte keinesfalls verweigern. So hat etwa das Bundesverfassungsgericht in seinem vielbeachteten Grundsatzurteil zu einem im Luftsicherheitsgesetz vorgesehenen Anti-Terror-Einsatz der Bundeswehr festgestellt, daß "die Regelung - die dem Verteidigungsminister im Extremfall den Abschuss voll besetzter Passagiermaschinen erlauben sollte - weder mit dem Recht auf Leben noch mit der Garantie der Menschenwürde vereinbar" ist. [1]

Menschen dürfen nicht zum bloßen Objekt staatlichen Handelns herabgewürdigt werden, die vom Grundgesetz garantierte Menschenwürde hat somit Ewigkeitscharakter und ist "einer Einschränkung nicht zugänglich", betonte das Gericht. Mit anderen Worten: Selbst wenn die formale Hürde einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag und Bundesrat übersprungen wird, darf die Mehrheit das Grundgesetz in diesem Punkt nicht ändern. Die Menschenwürde wird nicht dadurch antastbar, weil es eine Große Koalition mit Hilfe ihrer parlamentarischen Mehrheit beschließt. Der Minderheitenschutz ist folglich konstitutiv für die Demokratie.

Im Gegensatz dazu gab es früher östlich der Elbe den sogenannten "Demokratischen Zentralismus". "...ein Organisations- und Führungsprinzip, das von Lenin umfassend beschrieben wurde und dadurch die Grundlage der Herrschaftssysteme der realsozialistischen Staaten wurde. Hauptpunkt des Demokratischen Zentralismus ist, dass Staat und Partei hierarchisch-zentralistisch aufgebaut sind, worin jede Entscheidung einer Parteiinstanz von der nächsthöheren bestätigt werden muss. Dieses Prinzip wurde geschichtlich verbunden mit einer starken Disziplinierung nachgeordneter Stellen, die an Entscheidungen höherer Instanzen streng gebunden waren, wodurch sich der Demokratische Zentralismus im Regelfall zu einem autokratischen Zentralismus entwickelte." [2]

Nun hat der Bundesvorstand der "Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit" (WASG) gerade die Landesvorstände in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern ihres Amtes enthoben und durch Beauftragte zu ersetzt, um einen eigenständigen, aber jeweils zuvor von einem Landesparteitag gebilligten Wahlantritt bei Landtagswahlen zu verhindern. Der Bundesvorstand verwies dabei auf den Beschluß des Bundesparteitags Ende April, der ihn ermächtige, "alle Maßnahmen zu prüfen und gegebenenfalls zu ergreifen", um einen Alleingang der Landesverbände zu verhindern. [3] Alle Maßnahmen? Wirklich alle? Oder bloß die, die mit demokratischen Grundsätzen (Minderheitenschutz) vereinbar sind?

Man stelle sich vor: Die SPD beschließt mit Mehrheit, folgenden Passus in ihr Wahlprogramm aufzunehmen: "Wir bekennen uns zur besonderen Verantwortung gegenüber den Schwächeren in unserer Gesellschaft. Deswegen wollen wir im Rahmen der Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe keine Absenkung der zukünftigen Leistungen auf Sozialhilfeniveau." Ein halbes Jahr später schlägt der wiedergewählte SPD-Bundeskanzler das genaue Gegenteil vor, die Zusammenlegung der Arbeitslosen- mit der Sozialhilfe auf dem Niveau von letzterem.

Doch die traditionell linken Landesverbände in Baden-Württemberg und Hamburg rebellieren. Sie beschließen, an der ursprünglichen Programmatik festzuhalten und die Hartz IV-Gesetzgebung hartnäckig zu bekämpfen. Der SPD-Bundesvorstand verfügt daraufhin, die Landesvorstände von Baden-Württemberg und Hamburg in die Wüste zu schicken. In Schweinfurth (Bayern) protestiert ein SPD-Mitglied, das auf den Namen Klaus Ernst hört, heftig gegen dieses autoritäre Gehabe des Bundesvorstands, tritt aus der SPD aus und kündigt an, eine eigene Partei zu gründen, in der so etwas nicht vorkommt. Welch ein Skandal. Und im Grunde unvorstellbar. Es sei denn, die SPD hätte große Lust, politischen Selbstmord zu begehen.

Genau das ist die Situation, die das ehemalige SPD-Mitglied Klaus Ernst, heute Mitglied des WASG-Bundesvorstands, bei der Wahlalternative herbeigeführt hat.

Die Entmachtung der Landesvorstände belegt m.E. abermals das autoritäre Verständnis der WASG-Parteiführung. Kein Wunder, daß sie unbedingt mit der Linkspartei.PDS fusionieren will. So wurde etwa kürzlich vom Bundesvorstand der Linkspartei.PDS die Entschließung des Europaparlaments mißbilligt, wonach die Menschenrechte selbstverständlich auch auf Kuba zu gelten haben. Ganz in der Tradition des Demokratischen Zentralismus wurden PDS-Europaabgeordnete, die sich erdreisteten, der Entschließung zuzustimmen, von oben abgemeiert. Bezeichnend. Und im gleichen antidemokratischen Geist handelt jetzt die Führung der WASG. Das paßt ins Bild.

Die WASG wurde einst gegründet, um der neoliberalen Großen Koalition von CDU/CSU/SPD/Grüne/FDP eine linke demokratische Alternative entgegenzusetzen. Sie sollte insbesondere für abtrünnige Sozialdemokraten und Grüne wählbar sein. Nun, da sie sich unbedingt mit der, was das Demokratieverständnis angeht, zweifelhaften Linkspartei.PDS ins Ehebett legen möchte, hat sie sich dadurch in meinen Augen kompromittiert. Kurzum, das Projekt einer linken demokratischen Alternative ist gescheitert.

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[1] Netzeitung vom 15.02.2006
[2] Wikipedia, Demokratischer Zentralismus
[3] Tagesschau.de vom 15.05.2006