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01. August 2006, von Michael Schöfer
Berufsoptimisten


Was haben sie nicht alles prophezeit? "Der deutsche Einzelhandel erwartet von der Fußball-Weltmeisterschaft einen Umsatzschub in Milliardenhöhe. 'Wir rechnen mit einem zusätzlichen WM-Umsatz von rund zwei Milliarden Euro', sagte Hubertus Pellengahr, Sprecher des Hauptverbandes des Deutschen Einzelhandels (HDE). Deutschland sei dank niedriger Preise 'ein wahres Einkaufsparadies' für Touristen, erklärte HDE-Hauptgeschäftsführer Holger Wenzel." [1]

Mit anderen Worten: Die Fans werden während der Fußball-WM nicht nur in die Stadien strömen, sondern auch in die Einzelhandelsgeschäfte und dort kräftig für Umsatz sorgen. Weil man sich gerade selbstgefällig an den eigenen Prognosen berauschte, wurden die Ladenöffnungszeiten abermals liberalisiert. Das hat zwar bereits in der Vergangenheit nichts gebracht, aber was soll's. Den Konsumenten wird man das Geld schon irgendwie aus der Tasche ziehen, immerhin ist deren Stimmung ja phantastisch.

Noch kurz nach der WM, ein "großes fröhliches Fest, das Nation und Ausland begeistert hat", überschlugen sich Politiker in Erfolgsmeldungen. Beispielsweise Baden-Württembergs Wirtschaftsminister Ernst Pfister: "Die hervorragende Stimmung während der Weltmeisterschaft war ganz entscheidend dafür, dass viele Branchen ihre Umsätze während der Weltmeisterschaft steigern konnten", verkündete er am 11.07.2006. "Auch im Tourismusbereich seien deutliche Zuwächse zu verzeichnen", hieß es. [2]

Nun werden die Berufsoptimisten von der Realität eingeholt. Es stellt sich nämlich heraus, daß die "Miesmacher" einmal mehr recht behalten haben. "Impulse durch Fußball-WM bleiben aus", meldet die Frankfurter Rundschau heute. "Die Fußball-WM hat dem deutschen Einzelhandel nicht den erhofften Zuwachs gebracht. Im Juni stiegen die Umsätze der Händler nominal nur leicht um 0,4 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat. (...) Inflationsbereinigt gab es sogar ein Minus von 0,4 Prozent." Und das Hotelgewerbe verzeichnete sogar einen Rückgang der Zimmerauslastung um 2,7 Prozent. "Offensichtlich seien viele Geschäfts- und Urlaubsreisende von der WM verdrängt worden", mußte der Chef der Branchenlobby, Fritz Dreesen, kleinlaut eingestehen." [3]

Fakten sind eben manchmal ziemlich ernüchternd. Eindringliche Warnungen, wonach die Menschen nur das ausgeben können, was sie in der Tasche haben, hatten gegen das "Gute-Laune-Gebrüll" und die "Erfolgs-Besoffenheit" keine Chance. Sie wurden schlicht und ergreifend ignoriert. Doch jetzt läßt der Kater bei vielen den Schädel brummen, denn erneut haben sich nüchterne ökonomische Erwägungen als zutreffend erwiesen.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes sind die Tariflöhne gesunken. "Demnach konnten die Tarifzuschläge, die zwischen April 2005 und 2006 gezahlt wurden, den Preisanstieg nicht ausgleichen. Die Gehälter der Angestellten waren im April nur 0,7 Prozent höher als ein Jahr davor. Das ist der niedrigste Anstieg seit mehr als zehn Jahren. Die Verbraucherpreise erhöhten sich im gleichen Zeitraum um zwei Prozent. Das heißt: Real verdienen Tarifangestellte im Durchschnitt 1,3 Prozent weniger Geld." [4] Kein Wunder, wenn die Einzelhandelsumsätze real ebenfalls sinken.

Zurückgehende Reallöhne werden schon seit längerem beklagt, allerdings wird nichts dagegen unternommen. Exemplarisch hierfür ist die Diskussion um den gesetzlichen Mindestlohn. Politik und Wirtschaft erschöpfen sich vielmehr in symbolischen Handlungen, wie zum Beispiel in der Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten. Daß sich das zur Verfügung stehende Kapital der Konsumenten dann bloß auf mehr Einkaufsstunden verteilt, aber dadurch naturgemäß nicht zunimmt, wird geflissentlich übersehen. Der neoliberalen Ideologie folgend, werden insbesondere die Unternehmensteuern gesenkt, die Arbeitnehmer hingegen belastet.

Solange das so bleibt, wird sich an der Flaute auf dem Binnenmarkt nichts ändern. Selbst eine Fußball-WM reißt es eben, wie man sieht, nicht heraus. Und wenn die Kassandras recht behalten, steht die leichte Erholung auf dem Arbeitsmarkt, von der man derzeit allerorten schwärmt, ebenfalls auf tönernen Füßen. Sollte auch diese Illusion am Ende wie eine Seifenblase zerplatzen, werden die ökonomischen Laienschauspieler in Berlin und deren Einflüsterer (Lobbyisten) probieren, sich mit einer neuen Sparorgie zulasten der Schwächeren aus der Krise herauszukatapultieren. Daß sie damit der ökonomischen Abwärtsspirale zusätzlichen Schub verleihen, ist ihnen offenbar nicht bewußt.

Der Ausbruch aus diesem Teufelskreis ist nur durch eine grundsätzliche Änderung der Wirtschaftspolitik möglich. Mehr Geld in den Taschen der mittleren und unteren Einkommensbezieher könnte helfen. Anders ausgedrückt: Wir bräuchten mehr Umverteilung von oben nach unten. Doch genau das ist ein Tabu, an das man sich nicht herantraut. Inzwischen ist Umverteilungspolitik in Deutschland ein Schimpfwort. Das sagt alles.

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[1] www.fast-alles.net vom 07.06.2006
[2] Baden-Württemberg, Media-Center WM 2006
[3] Frankfurter Rundschau vom 01.08.2006
[4] Frankfurter Rundschau vom 29.07.2006