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13. September 2006, von Michael Schöfer
Sind wir wirklich Papst?


"Wir sind Papst", stand nach seiner Wahl fett auf der Titelseite des Blatts mit den großen Buchstaben. Aus Joseph Alois Ratzinger wurde Papst Benedikt XVI. Und seitdem gibt es hierzulande um das katholische Oberhaupt einen enormen Medienrummel, so wie jetzt anläßlich seines Besuches in Bayern. Ich kann den Hype um Ratzinger überhaupt nicht nachvollziehen. Hat sich die katholische Kirche etwa grundlegend gewandelt? Keineswegs, denn nach wie vor verurteilt sie Kondome (selbst bei Aids-Infizierten), den vor- bzw. außerehelichen Geschlechtsverkehr und natürlich die Homosexualität. Die kirchliche Zensur wurde ebensowenig abgeschafft wie der Zölibat, Geschiedene dürfen immer noch nicht getraut werden und Laien stehen in der hierarchisch strukturierten Amtskirche weiterhin im Abseits. Von der Einstellung zu Frauen ganz zu schweigen. Gewerkschaften sind in den kirchlichen Einrichtungen ebenso tabu wie Personalräte, Streiks der Beschäftigten genauso ausgeschlossen wie die Duldung von Mitarbeitern, die aus der Kirche austreten oder sich scheiden lassen. Der Papst ist fürwahr der letzte absolutistische Herrscher in Europa. Warum er gerade hier, in einer scheinbar aufgeklärten Demokratie, so gefeiert wird, ist mir ehrlich gesagt völlig schleierhaft.

Und nun hat sich Ratzinger überdies als engstirniger Fundamentalist geoutet. Die Welt und die Menschen seien kein zufälliges Produkt der Evolution, sagte er in Regensburg. "Wir glauben, dass das ewige Wort, die Vernunft, am Anfang steht und nicht die Unvernunft." Seit der Aufklärung arbeitet ein Teil der Wissenschaft emsig daran, eine Welterklärung zu finden, in der Gott überflüssig wird. Die Sache mit dem Menschen geht nicht auf ohne Gott, und die Sache mit der Welt, dem ganzen weiten Universum, geht nicht auf ohne ihn." Die Gläubigen sollten sich daher nicht von wissenschaftlichen Widerlegungsversuchen der göttlichen Schöpfung irritieren lassen. Außerdem bezeichnete er den Atheismus als Irrweg. [1]

Er mag denken, was er will. Aber was wären die Konsequenzen? Sollen wir sämtliche Biologiebücher einstampfen, Darwin und Einstein vom Sockel reißen? Sollen wir die nachprüfbaren Erkenntnisse über die Entwicklung des Universums und des Lebens auf der Erde einfach ignorieren, die Schüler dagegen wieder mit der Schöpfungsgeschichte der Bibel konfrontieren? Ratzinger steht in der unseligen Tradition seiner Vorgänger und würde die Aufklärung, die die Kirche von jeher aufs schärfste bekämpft hat, vermutlich am liebsten rückgängig machen. Zurück in die Zukunft? Es ist wahr, daß in den westlichen Demokratien der Materialismus bedauerlicherweise eine dominierende Rolle spielt. Und es ist wahr, daß die Prinzipien, auf denen die Demokratie beruht (die Ideale der französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) häufig mißachtet werden - namentlich durch die jetzige US-Regierung, die den Terror der Islamisten mit Lug und Trug, Folter, Geheimgefängnissen und der faktischen Abschaffung des Völkerrechts bekämpft. Doch eine voraufklärerische Haltung, wie sie Ratzinger lauthals anpreist, ist für all das keine adäquate Lösung.

Wir brauchen keinen, der uns sagt, was wir zu denken haben. Letzteres tun wir nämlich am liebsten selbst. Die Demokratie, die mit Pluralismus, Meinungsfreiheit, Gewaltenteilung und Säkularisierung untrennbar verbunden ist, resultiert aus einer gesellschaftlichen Entwicklung, bei der die Vernunft über den Glauben gesiegt hat. Zum Glück. Vorher war Willkür, Unfreiheit, Meinungsterror und Wissenschaftsfeindlichkeit. Wie sich Europa ohne Aufklärung entwickelt hätte, erleben wir ja gegenwärtig hautnah am beklagenswerten Zustand der islamischen Länder. Ihre gesellschaftliche und technologische Rückständigkeit, das Verharren in archaischen Verhaltensmustern, ist kausal aus der dort fehlenden Aufklärungsphase ableitbar. Attraktiv sind die Vorschläge Ratzingers, der Wissenschaft adieu zu sagen und sich dem Glauben hinzuwenden, somit nicht. Vor allem, weil die Hinwendung zum Glauben stets mit der Unterwerfung unter das (päpstliche?) Dogma verbunden ist. Der augenblickliche Medienrummel ist vor diesem Hintergrund in der Tat absolut unverständlich.

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[1] Handelsblatt vom 12.09.2006, Neue Zürcher Zeitung und Die Presse.com vom 13.09.2006