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21. Januar 2007, von Michael Schöfer
Meinungsfreiheit ade?


Natürlich ist die Meinungsfreiheit nicht vollkommen schrankenlos. Dass man sich etwa bei Beleidigungen ("Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch.") nicht auf die Meinungsfreiheit berufen kann, ist völlig in Ordnung. Aber neuerdings wird die Meinungsfreiheit allzu häufig mit dem Hinweis auf das Persönlichkeitsrecht ausgehebelt. So hat beispielsweise Jürgen Schrempp, der frühere Vorstandsvorsitzende von Daimler-Chrysler, vor dem Hamburger Landgericht gerade einen Prozess gegen Jürgen Grässlin gewonnen. Grässlin, Verfasser mehrerer kritischer Bücher über den Autokonzern ("Das Daimler-Desaster. Vom Vorzeigekonzern zum Sanierungsfall?"), hatte in einem Radiointerview Zweifel an Schrempps freiwilligem Rücktritt geäußert. Er glaube nicht daran, sagte Grässlin. Dies darf er künftig nicht mehr behaupten oder verbreiten, befanden die Richter und begründeten ihr Urteil mit dem Persönlichkeitsrecht Schrempps und dem Unternehmenspersönlichkeitsrecht Daimler-Chryslers. "Bei Zuwiderhandlung droht dem Freiburger Publizisten eine Ordnungshaft bis zu sechs Monaten oder ein Ordnungsgeld bis 250.000 Euro." [1]

Ebenfalls vom Hamburger Landgericht untersagt: "Natürlich gönne ich auch Gerhard Schröder jeden Rubel. Ich finde es allerdings problematisch, dass er als Bundeskanzler einer Firma einen Auftrag gegeben hat und dann wenige Wochen nach Amtsübergabe in die Dienste eben jener Firma tritt." Es handle sich bei diesem Satz um eine Tatsachenbehauptung und nicht um eine Meinungsäußerung, urteilten die Richter. Diesmal zog der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle den Kürzeren. Hintergrund ist die Verknüpfung der Entscheidung über den Bau der Ostsee-Pipeline, die in der Regierungszeit Schröders gefällt wurde, und seiner Wahl zum Aufsichtsratsvorsitzenden beim deutsch-russischen Ostsee-Pipeline-Konsortium. Schröder hat Westerwelles Aussage als unwahr bezeichnet und erreicht, dass der FDP-Vorsitzende die Äußerung nicht mehr öffentlich wiederholen darf, ansonsten droht auch ihm eine Geldstrafe von bis zu 250.000 Euro.

Das Hamburger Landgericht verbot im Jahr 2002 der Nachrichtenagentur ddp sogar die Behauptung, der damalige Bundeskanzler färbe seine Haare. Wirklich lachhaft, manche Prozesse sind nicht von Satire zu unterscheiden und eine Steilvorlage für jeden Kabarettisten. Doch über die faktische Einschränkung der Meinungsfreiheit via Persönlichkeitsrecht kann man kaum noch lachen, das Ganze ist vielmehr eine besorgniserregende Entwicklung. Wird einem demnächst selbst die Behauptung untersagt, der bayerische CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber habe seine Ämter nur unfreiwillig aufgegeben, obgleich wir das in diesem Tagen - Gabriele Pauli sei Dank - quasi aus der ersten Reihe miterleben durften? Gut möglich, wenn man sich die einschlägigen Urteile des Hamburger Landgerichts ansieht. Das Persönlichkeitsrecht in allen Ehren, aber es darf sich nicht zur Waffe gegen die Meinungsfreiheit entwickeln. Ob es daran liegt, dass die genannten Prozesse alle in Hamburg geführt wurden? Urteilen die Richter dort nach anderen, höchst eigentümlichen Maßstäben?

Wie dem auch sei, Schröder & Co. erreichen mit solchen Prozessen paradoxerweise genau das Gegenteil. So hat sich der Ex-Bundeskanzler mit seinem Haarfärbeprozess vor der ganzen Nation bis auf die Knochen blamiert. Über Jürgen Schrempp hat längst kein Mensch mehr gesprochen. Jetzt wird allerdings sein umstrittener Rücktritt erneut ins Rampenlicht der Öffentlichkeit gezerrt, nun wird abermals über die eklatanten Fehlentscheidungen in der Ära Schrempp diskutiert. Und das alles, weil er sich daran stößt, was Grässlin darüber glaubt. Es wirkt fast so, als wolle er ihm einen großen Gefallen tun. Jürgen Grässlin wird sich insgeheim über die kostenlose Werbung für seine Bücher freuen, die sich künftig bestimmt viel besser verkaufen. Für einen Autor gibt es nämlich nichts Besseres als skurrile Zensurversuche. Sie heben den Bekanntheitsgrad.

Willst Du einen Autor berühmt machen, setze sein Werk auf den Index. Das haben die Feinde der Meinungsfreiheit und selbsternannten Hüter der hohen Moral zum Glück nie kapiert. Was kommt uns heute in Bezug auf Galileo Galilei sofort in den Sinn? Genau, sein Prozess. "Und sie bewegt sich doch", soll Galilei der Legende nach beim Verlassen des Gerichtssaals gemurmelt haben. Diesen Satz kennt fast jedes Kind. Kennen Sie dagegen Niccolò Riccardi? Nicht? Nun, das war der damalige päpstliche Palastmeister und Zensor. Sehen Sie! Der "Index librorum prohibitorum" war das Verzeichnis der katholischen Kirche über die verbotenen Bücher. Wer sich darin wiederfand, wurde dadurch geradezu geadelt: Montaigne, Descartes, Pascal, Montesquieu, Hobbes, Defoe, Kant, Voltaire, Rousseau, Diderot, Balzac, Hugo, Flaubert, Dumas, Sartre und viele andere mehr. Sozusagen ein "who is who" der guten Literatur und bedeutender Werke der Philosophie und Naturwissenschaft.

Zugegeben, das Hamburger Landgericht ist nicht die katholische Kirche. Aber mit seinen Urteilen gefährdet es meiner Auffassung nach die Meinungsfreiheit. "Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt", lautet Artikel 5 des Grundgesetzes. Doch wenn man nicht mehr behaupten darf, Schrempp sei unfreiwillig zurückgetreten oder der Kanzler färbe seine Haare, ist dieser Grundsatz in Gefahr. Jürgen Grässlin will in die Berufung gehen. Das ist gut so.

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[1] Frankfurter Rundschau vom 20.01.2007