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20. Juli 2007, von Michael Schöfer
Geschummelt wird überall...


...nicht nur bei der Tour de France. Künftig sollen deshalb Jobcenter und Arbeitsämter bei Verdacht auf Leistungsmissbrauch die Kontendaten von Hartz-IV-Empfängern abfragen dürfen. [1] Auf Hartz-IV-Empfänger haben es die Behörden offenbar ohnehin abgesehen. "Wer als Hartz-IV-Empfänger in Hamburg ins Krankenhaus muss, den trifft es doppelt schwer. Neben dem gesundheitlichen Problem kommt ein finanzielles hinzu, denn: Bei einem stationären Krankenhausaufenthalt kürzt die Arge (Arbeitsgemeinschaft zur Umsetzung von Hartz IV) den Hartz-IV-Empfängern ab dem ersten Tag 35 Prozent ihres Regelsatzes. Bei 345 Euro Grundsicherung sind das laut Arge im Monat 121,45 Euro. (...) Demnach wertet die Arge das Essen, das der Patient im Krankenhaus bekommt, sogar als zusätzliches Einkommen." [2] Ein Skandal.

Bei den Kleinen kürzt man und will stärker kontrollieren, bei den Großen sieht man hingegen nicht so genau hin. So fiel etwa kürzlich erst durch eine Betriebsprüfung auf, dass die Firma Roche Diagnostics in den letzten zehn Jahren zu wenig Gewerbesteuer gezahlt hat. Grund: Das Unternehmen hatte Gewinne in die Schweiz verschoben und sie so dem deutschen Fiskus entzogen. Die Stadt Mannheim darf sich daher über eine Sonderzahlung von 75 Mio. Euro freuen. [3] Roche Diagnostics ist aufgeflogen, viele andere kommen jedoch davon.

Das ist kein Ausnahmefall, sondern hat System: "Bei der Steuerprüfung geht es um Milliarden Euro. Allein im letzten Jahr haben die Betriebsprüfungen der Finanzämter dazu geführt, dass Unternehmen Steuernachzahlungen in Höhe von insgesamt 13,5 Milliarden Euro leisten mussten! Es gilt die Regel: je größer die Unternehmen, desto schlechter die Zahlungsmoral. (...) Insgesamt überprüften 10.619 Finanzbeamte die Bücher von 217.000 Firmen. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass bei den Finanzämtern insgesamt 7,3 Millionen Betriebe erfasst sind. Die Betriebsprüfung erreicht also nur eine kleine Minderheit der Betriebe, weil es viel zu wenig Personal gibt. Dies hat zur Folge, dass selbst die Großbetriebe statistisch gesehen nur alle 4,4 Jahre geprüft werden. Bei den Mittelbetrieben kommt alle 13,1 Jahre mal jemand vorbei, bei den Kleinbetrieben sogar nur alle 28 Jahre", schrieb Dr. Jürgen Glaubitz, Abteilungsleiter Wirtschafts- und Strukturpolitik des ver.di-Landesbezirks NRW, im Juni 2006. [4]

Geschummelt wird überall, doch die großen Schummler fasst man mit Samthandschuhen an, während man sich an den kleinen, gerne unter Beteiligung der Boulevard-Presse, abarbeitet. Können Sie sich noch an die Kampagne gegen "Florida-Rolf" erinnern, den angeblichen Sozialschnorrer? "Infolge der durch die Medien geschürten öffentlichen Empörung verabschiedete das Kabinett innerhalb kürzester Zeit auf Betreiben der Bundessozialministerin Ulla Schmidt eine Verschärfung der Richtlinien zur Zahlung von Sozialhilfe ins Ausland." [5] "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich", sagt das Grundgesetz in Artikel 3. Wirklich alle? Wie man sieht, nicht. Trotz der grassierenden Steuerhinterziehung werden die Gesetze kaum verschärft, von der vermehrten Einstellung von Betriebsprüfern ganz zu schweigen.

Wie wäre es um unsere chronisch defizitären Staatshaushalte bestellt, wenn man alle gleichermaßen gut kontrollieren würde? Wahrscheinlich könnten wir die Staatsverschuldung auf null reduzieren und sogar noch die Steuern senken, das käme dann wiederum der Gemeinschaft zugute. "Nach Einschätzungen der Deutschen Steuergewerkschaft gehen dem Fiskus jährlich bis zu 70 Milliarden Euro verloren. (...) Und jeder Steuerprüfer bringt dem Staat rund 1,5 Millionen Euro, bei Bruttokosten von 70.000 Euro!" [6] Aber nein, lieber pflegt man die Besitzstände und den Egoismus Einzelner. Es ist zum Verrücktwerden: Die Unternehmen klagen über fehlende Spezialisten, wollen ungeachtet dessen kaum noch welche ausbilden. Der Staat soll mehr Geld in Bildung und Forschung investieren, Steuern zahlen wollen sie dafür allerdings nicht. Ausbildungsabgabe? Konsequente Verfolgung von Steuerhinterziehung? Fehlanzeige! Welch ein Irrsinn. Am ungerechtfertigten Schutz von Partikularinteressen können bekanntlich ganze Gesellschaften zugrunde gehen.

Der Profiradsport ist durch dopende Radsportler in eine tiefe Krise geraten, die Gesellschaft ist es wegen der weitverbreiteten Unehrlichkeit ebenso. ARD und ZDF haben sich aufgrund der Dopingvorfälle von der Übertragung der diesjährigen Tour de France verabschiedet. Zu Recht, wie ich meine. Wie wäre es, wenn man den frei gewordenen Sendeplatz einmal anderen Betrügern widmet, anstatt dem im gelben Trikot den mit den weißen Kragen? Dass der Privatsender Sat.1 anstelle des öffentlich rechtlichen Fernsehens gleich in die Live-Übertragung der Tour de France eingesprungen ist und dadurch womöglich sogar einen Zuschauerzuwachs erzielt, dürfte symptomatisch sein für den Zustand der Republik. In Wahrheit will man es vielleicht doch nicht so genau wissen. Traurig aber wahr.

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[1] heise-online vom 19.07.2007
[2] Hamburger Abendblatt vom 20.07.2007
[3] Mannheimer Morgen vom 17.07.2007
[4] Ver.di b+b, Standpunkte, Archiv, Betriebsprüfung
[5] Wikipedia, Florida-Rolf
[6] Glaubitz, a.a.O.