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09. August 2007, von Michael Schöfer
Arbeitskampf der GDL - ein zweischneidiges Schwert


In der Tarifauseinandersetzung zwischen der Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL) und der Deutschen Bahn AG wird vermehrt die Justiz bemüht. Die Deutsche Bahn hat bei etlichen Gerichten Klage eingereicht, offenbar in der Hoffnung, irgendwo recht zu bekommen. Und das zugegebenermaßen nicht ohne Erfolg, wie die einstweiligen Verfügungen der Arbeitsgerichte Düsseldorf und Nürnberg zeigen. Die Begründungen, die die Gerichte für ihre Entscheidungen anführen, sind freilich in hohem Maße bedenklich.

Das Düsseldorfer Arbeitsgericht verbot den geplanten Streik der Lokführer im Nahverkehr Nordrhein-Westfalens, weil es "den Grundsatz der Tarifeinheit, wonach in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag gelten soll", verletzt sah. [1] Das Arbeitsgericht Nürnberg wiederum untersagte der GDL einen flächendeckenden Streik, da dieser der deutschen Volkswirtschaft während der Hauptreisezeit enorme Schäden zufügen würde, nach Ansicht des Gerichts wäre der Streik der Lokführer unverhältnismäßig und damit rechtswidrig. [2]

Das Streikrecht selbst ist in Deutschland nicht gesetzlich geregelt, allerdings hat die Rechtsprechung hierzu Kriterien entwickelt, an die die Tarifvertragsparteien gebunden sind. Insofern folgen die o.a. Entscheidungen nicht einem bestimmten Gesetz, sondern bauen - zumindest potenziell - auf der bislang ergangenen Rechtsprechung auf. Ob die angesprochenen Entscheidungen jedoch von höheren Instanzen gebilligt werden, ist zu bezweifeln, da sie tiefgreifend in die vom Grundgesetz garantierte Koalitionsfreiheit, wozu das Streikrecht gehört, eingreifen. Artikel 9 Abs. 3 Grundgesetz sagt: "Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet."

"Eine Streikmaßnahme kann im einstweiligen Verfügungsverfahren nur dann untersagt werden, wenn sie eindeutig rechtswidrig ist und dies glaubhaft gemacht ist", sagt das Hessische Landesarbeitsgericht in seiner Entscheidung vom 02.05.2003 (Az: 9 SaGa 637/03), als zwischen GDL und Deutscher Bahn schon einmal vor Gericht um den Abschluss eines Spartentarifvertrags gestritten wurde. Und: "Es kann nicht festgestellt werden, dass der Spartentarifvertrag", den die GDL mit der Deutschen Bahn AG "abschließen und um den sie streiken will, rechtswidrig ist. Die Untersagung eines Streikaufrufs lässt sich insbesondere nicht mit dem sog. Grundsatz der Tarifeinheit begründen. (...) Das Prinzip der Tarifeinheit ist (...) nicht geeignet, Arbeitskämpfe um einen geforderten Tarifvertrag von vornherein zu unterbinden", da dies mit der durch Artikel 9 Abs. 3 geschützten Koalitionsfreiheit nicht in Einklang zu bringen sei. [3]

Nur wenn von vornherein (!) feststeht, dass der Spartentarifvertrag der GDL nach dem Prinzip der Tarifeinheit dem bereits bestehenden Tarifvertrag von Transnet und GDBA zum Opfer fällt, ist der Streik womöglich rechtswidrig. Diese Frage lässt sich aber vor Gericht nur in einer Einzelfallentscheidung klären. "Im Hauptsacheverfahren wird am 19. September in Frankfurt am Main entschieden. Die Deutsche Bahn hat auf Feststellung der Tarifeinheit für alle Beschäftigten geklagt. Demnach müsste die GDL den bereits mit den Gewerkschaften Transnet und GBDA geschlossenen Tarifvertrag akzeptieren und dürfte nicht für einen eigenen Tarifvertrag streiken." [4]

"Das Prinzip der Tarifeinheit, auf das sich der Richter [in Düsseldorf] beruft, habe sich in der Rechtsprechung herausgebildet, es sei aber in keinem Gesetz verankert und seit langem 'verfassungsrechtlich hoch umstritten', betont Ulrich Preis [Arbeitsrechtler an der Uni Köln]. Auch das Bundesarbeitsgericht (BAG) scheint inzwischen davon abzurücken: 'Alle Signale, die wir vom BAG erhalten, deuten darauf hin, dass das Gericht dieses Prinzip schlachtet', erläutert der Frankfurter Arbeitsrechtler Manfred Weiss." [5]

Wäre das Prinzip der Tarifeinheit tatsächlich restriktiv auszulegen, käme das in der Praxis einem Betätigungsverbot von kleineren Gewerkschaften gleich. Denn gäbe es in einem Betrieb bereits eine etablierte Gewerkschaft, könnte sich diese mit der Berufung auf die Tarifeinheit jegliche Konkurrenz von Leibe halten. Wären etwa Beschäftigte mit der im Betrieb dominierenden Gewerkschaft unzufrieden, hätte der Wechsel zu einer anderen keinen Sinn, da Letztere schließlich völlig machtlos wäre, sobald man ihr per Gerichtsurteil das Recht abspräche, für ihre Mitglieder eigene Tarifverträge auszuhandeln. Mit anderen Worten: Das Prinzip der Tarifeinheit darf die vom Grundgesetz garantierte Koalitionsfreiheit keinesfalls auf dem kalten Wege aushebeln. So gesehen wird die Entscheidung des Düsseldorfer Arbeitsgerichts eventuell keinen Bestand haben. Es ist vielmehr wahrscheinlich, dass darüber erst vom Bundesarbeitsgericht oder gar vom Bundesverfassungsgericht neu entschieden wird.

Das Prinzip der Tarifeinheit völlig aufzugeben, wäre nichtsdestotrotz kontraproduktiv. Insbesondere aus Arbeitnehmersicht, denn dann würden die Arbeitgeber nur noch mit für sie günstigen "Discount-Gewerkschaften" Tarifverträge abschließen, was zweifellos zu einem dramatischen Absinken des Lohnniveaus und zu einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen führen könnte. Wenn ganz schlaue Arbeitgeber nicht gleich dazu übergehen, eigene Gewerkschaften zu gründen (vgl. z.B. die Affäre Siemens/AUB). [6]

Die Nürnberger Entscheidung ist ebenfalls schwer nachvollziehbar. Es ist ja gerade der Sinn des Streiks, Schäden zu verursachen. Käme es nicht zu Beeinträchtigungen, wären Streiks völlig nutzlos. Gerade durch die streikbedingten Schäden soll ja der Arbeitgeber gezwungen werden, auf die Interessen der Beschäftigten einzugehen. Dies gilt natürlich auch für mittelbare Folgen, also Schäden, die Betriebe erleiden, die an der eigentlichen Tarifauseinandersetzung vollkommen unbeteiligt sind. Der GDL Arbeitskampfmaßnahmen zu verbieten, weil sie der deutschen Volkswirtschaft während der Hauptreisezeit angeblich enorm schaden, ist daher inakzeptabel. Hätte das Urteil Bestand, könnte man mit einer derartigen Begründung praktisch jeden größeren Streik unterbinden. In der Konsequenz liefe das auf eine faktische Abschaffung des Streikrechts hinaus, den Arbeitnehmern würde nämlich jedes Druckmittel aus den Händen gerissen und sie müssten dem Willen der Arbeitgeber widerstandslos Folge leisten.

Jede Medaille hat eine Vor- und eine Rückseite, deshalb ist das forsche Auftreten der GDL ein zweischneidiges Schwert. Einerseits ist die Zersplitterung der Gewerkschaftsbewegung langfristig bestimmt nachteilig, der Idealzustand wäre demnach eine Gewerkschaft pro Betrieb oder Branche. Andererseits haben die bislang vorherrschenden Gewerkschaften offenkundig bestimmte Teile ihrer Mitglieder aus dem Blick verloren. Die Unzufriedenheit mit den mageren Tarifabschlüssen der Vergangenheit ist groß. In diese Lücke stößt jetzt bei der Bahn die GDL. Die "Vereinigung Cockpit" (Verband der Verkehrsflugzeugführer und Flugingenieure in Deutschland) und der "Marburger Bund" (Verband der angestellten und beamteten Ärztinnen und Ärzte Deutschlands) haben es ja erfolgreich vorgemacht.

Wenige Spezialisten, die an exponierter Stelle sitzen, wie etwa im Cockpit eines Passagierjets oder auf dem Führerstand eines ICE, halten ein immenses Druckpotenzial in Händen und können auf diese Weise vergleichsweise viel herausschlagen. Jedenfalls mehr als andere. Doch was ist mit dem Rest der Belegschaft, der ja ebenfalls zum Erfolg eines Unternehmens beiträgt, aber aufgrund geringerer Qualifikation leichter austauschbar ist? Sollen diese Arbeitnehmer von der Lohnentwicklung abgekoppelt werden? Folge wäre unzweifelhaft eine weitere Ausdifferenzierung der Gehälter. Oder anders ausgedrückt: Die Kluft zwischen den einzelnen Gehaltsgruppen würde sich verbreitern. Die Koalitionsfreiheit und das durchaus sinnvolle Prinzip der Tarifeinheit konkurrieren also miteinander.

Es muss abgewartet werden, wie über diese konkurrierenden Interessen am Ende entschieden wird. Unter Umständen wird das Streikrecht höchstrichterlich präzisiert bzw. modifiziert. Der GDL unterdessen jegliche Arbeitskampfmaßnahmen gerichtlich zu verbieten, ist jedoch der falsche Weg. Vielleicht gibt die Kontroverse dem Gesetzgeber sogar Anlass, das Streikrecht in einem eigenen Gesetzeswerk zusammenzufassen. Zumindest wäre damit den stark divergierende Entscheidungen unterer Instanzen ein Riegel vorgeschoben.

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[1] Berliner Zeitung vom 02.08.2007
[2] Spiegel-Online vom 08.08.2007
[3] Arbeitsrecht Online, Rechtsanwalt Dr. Hensche, Fachanwalt für Arbeitsrecht
[4] Frankfurter Rundschau vom 08.08.2007
[5] Frankfurter Rundschau vom 03.08.2007
[6] Manager-Magazin vom 29.07.2007