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28. September 2006, von Michael Schöfer
Im Krieg und in der Liebe...


...ist alles erlaubt, sagt der Volksmund. Und insbesondere im Krieg greift man gerne zu jeder erdenklichen List, um am Ende den Sieg davonzutragen. Das ist legitim und nichts Ehrenrühriges. So wurde etwa Nuri as-Said (1888-1958), irakischer Politiker und mehrmals Premierminister, unter Abd al-Ilah und König Faisal II. zeitweise der mächtigste Mann im Irak, beim Putsch einer Gruppe von Offizieren um Abd al-Karim Qasim in Frauenkleidern auf der Flucht ertappt und getötet. Frauenkleider? Bei einem Mann? Nun, der Zweck heiligt in diesem Fall wohl die Mittel.

Ipek Calislar, türkische Schriftstellerin, schildert in einer Biographie das Leben von Latife Hanim, zwischen 1923 und 1925 die Frau von Mustafa Kemal, besser bekannt unter dem Namen Atatürk. Im April 1923 wird das Haus der Kemals von Konterrevolutionären belagert. "Während Latife Hanim die Angreifer geschickt hinhält, gelingt Kemal die Flucht aus dem Gebäude: in einen Tschador gehüllt, einen Umhang, wie ihn strenggläubige Muslima tragen." [1]

Das hat einen Leser dazu veranlaßt, gegen Calislar Anzeige zu erstatten. Begründung: Die Schilderung sei eine Beleidigung Atatürks, der türkischen Nation und des Lesers. Der Staatsanwalt des Instanbuler Bezirks Bagcilar schloß sich dem an, und jetzt steht die Autorin vor Gericht. Dabei sind die Umstände der Flucht Atatürks durch Zeitzeugen belegt, Calislar hat also nichts Falsches berichtet.

Die Schriftstellerin wird sich vermutlich wegen "Herabsetzung des Türkentums", dem berühmt-berüchtigten Strafrechtsparagraphen 301, vor Gericht verantworten müssen. Dieser Gummiparagraph wird in der Türkei immer wieder herangezogen, um mißliebige Kritiker mundtot zu machen. Die Meinungsfreiheit ist nämlich in der Türkei nicht immer frei. Vor allem Schriftsteller und Journalisten haben darunter zu leiden, hauptsächlich wenn sie sich an die Vorgänge während des ersten Weltkriegs heranwagen. In der Türkei kamen zwischen 1915 und 1917 schätzungsweise bis zu 1,5 Millionen Armenier durch Übergriffe um. Die Türkei wehrt sich bis heute dagegen, diese Vorgänge als Völkermord zu werten. Wer anderer Meinung ist, landet vor Gericht.

So wird die Türkei nie Mitglied der EU werden, denn hier ist die Meinungsfreiheit ein hohes Gut. Zu Recht, in einer Gemeinschaft von Demokratien haben derartige Bestimmungen keinen Platz. Der Beitrittskandidat wird demzufolge noch viel aufzuarbeiten haben. Jede Anklage wegen "Herabsetzung des Türkentums" ist dem Ziel, in der EU Mitglied zu werden, abträglich. Hoffentlich wird man das in Ankara irgendwann begreifen.

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[1] Frankfurter Rundschau vom 28.09.2006

Nachtrag (20.12.2006):
Ipek Calislar ist, wie die Frankfurter Rundschau heute meldet, am 19. Dezember 2006 vom Vorwurf der Beleidigung des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk freigesprochen worden. Ihr hätten bei einer Verurteilung bis zu viereinhalb Jahre Haft gedroht.