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24. September 2006, von Michael Schöfer
Der soziale Kitt


Der Untergang vieler Reiche war nicht nur militärisch bedingt, weil äußere Feinde erfolgreich die Staatsgrenzen überrannten. Mindestens genauso entscheidend war der innere Zerfall der Gesellschaft, beispielsweise durch die übergroße Dominanz von Partikularinteressen. Häufig ging der innere Zerfall dem äußeren voraus, schuf sogar erst die Voraussetzung des letzteren. Natürlich sollten wir aus der Geschichte die entsprechenden Lehren ziehen, aber tut man es auch? Das ist zumindest fraglich. Nun wird an der Gesundheitsreform nicht gleich die Bundesrepublik oder gar der gesamte Westen zugrunde gehen. Dennoch ist sie exemplarisch für die Mechanismen, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt bei uns peu à peu zerbröckeln lassen. Und damit die Loyalität der Bürger zur Demokratie.

Bei der Gesundheitsreform streitet man momentan hauptsächlich über die sogenannte Ein-Prozent-Regel. Sie soll nach dem Willen der SPD die Zusatzprämie, die die Versicherten an ihre Krankenkasse zu entrichten haben, auf ein Prozent des Haushaltseinkommens begrenzen. Die Schwelle von maximal einem Prozent des Haushaltseinkommens müsse abgeschafft werden, verlangt etwa der saarländische CDU-Ministerpräsident Peter Müller. Mit anderen Worten: Müller plädiert für eine höhere Belastung der Versicherten. Sein Kollege, CDU-Ministerpräsident Günther Oettinger (Baden-Württemberg), assistiert: "Die CDU hat in der Vergangenheit zu stark Werte wie Gerechtigkeit und Solidarität betont." Aha, soll es in der Bundesrepublik künftig also weniger gerecht und weniger solidarisch zugehen, Herr Oettinger?

Beide CDU-Ministerpräsidenten wollen die Versicherten mit höheren Lohnnebenkosten belasten. Zwar hat sich die CDU in der Vergangenheit stets für die Senkung der Lohnnebenkosten ausgesprochen, in der Praxis ist davon bislang aber noch nichts zu merken. Im Gegenteil, de facto wurden bloß die Unternehmer entlastet, die Arbeitnehmer dürfen ruhig mehr bezahlen. Hier werden unverblümt Partikularinteressen bedient, die den sozialen Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält, allmählich zerstört. Nur zu, zieht den Bürgern noch mehr Geld aus der Tasche und verteilt ruhig weiter von unten nach oben. Es ist nicht die Einzelentscheidung, die so verheerend wirkt, sondern die Summe der Einzelentscheidungen. In ihrer Gesamtheit ergeben sie das, was wir gegenwärtig lauthals beklagen: zunehmenden Wählerschwund, Politikverdrossenheit, mangelndes Vertrauen in die Institutionen, politische Radikalisierung und abnehmende Zustimmung zur Demokratie.