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18. Oktober 2006, von Michael Schöfer
Der entscheidende Unterschied

Dem israelischen Präsidenten Mosche Katzav werden schwere Verbrechen vorgeworfen, die ihn demnächst nicht nur das Amt kosten, sondern sogar ins Gefängnis bringen könnten: Vergewaltigung von zwei Frauen, sexuelle Nötigung in weiteren Fällen, Lauschangriffe auf Telefonate seiner Angestellten sowie Vertrauensbruch und Amtsmißbrauch. Die Polizei hat in einem Untersuchungsbericht an die Generalstaatsanwaltschaft bereits Anklageerhebung empfohlen. Natürlich ist kein Land stolz darauf, von einem Präsidenten repräsentiert zu werden, dem man solche Taten zur Last legt, weshalb es momentan verständlicherweise jede Menge Rücktrittsforderungen hagelt. Wie das Ganze ausgeht, ist offen. Selbstverständlich gilt für Katzav, wie für jeden anderen auch, bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung die Unschuldsvermutung. Doch wenden wir unseren Blick einmal von den mutmaßlichen Taten Katzavs ab und richten ihn auf den Vorgang selbst. Israel ist eine Demokratie, umgeben von einem Meer autoritärer Regierungen. Das wird gerade an diesem Beispiel deutlich. In keinem arabischen Land wäre nämlich ein vergleichbarer Vorgang möglich. Dort hätte man derartige Vorwürfe gewiß unter den Teppich gekehrt, die Presse würde wohl kaum darüber berichten und polizeiliche Ermittlungen fänden nie statt. Die Opfer wären also aller Voraussicht nach nicht zu ihrem Recht gekommen, müßten vielmehr sogar um ihre Freiheit oder ihr Leben fürchten. Eine Anklageerhebung oder Gerichtsverhandlung? Kein arabischer Herrscher hätte - mangels unabhängiger Justiz - mit so etwas zu rechnen. Trotz der teilweise berechtigten Kritik an der Politik Israels sollte man diesen entscheidenden Unterschied zu würdigen wissen.