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13. Oktober 2006, von Michael Schöfer
Schwindsüchtiger Staat


Der zweieinhalbjährige Kevin ist tot, er wurde offenbar von seinem drogensüchtigen Vater mißhandelt und umgebracht. Der Bremer Jugendbehörde, unter deren Vormundschaft Kevin stand, werden deshalb schwere Versäumnisse vorgeworfen. Sozialsenatorin Karin Röpke (SPD) reichte umgehend ihren Rücktritt ein. Sich jetzt - im nachhinein - demonstrativ zu entrüsten und den Behörden krasses Versagen vorzuwerfen, ist bequem. Gewiß, das Jugendamt hätte mehr tun müssen. Selbstverständlich sind Fehler gemacht worden, die im Grunde nicht vorkommen dürfen. Doch hat man den Behörden auch die für die Hilfe notwendigen Mittel zukommen lassen? Einerseits wird ständig über eine angeblich zu hohe Steuerquote geklagt, weshalb man dem öffentlichen Dienst seit Jahren drastische Sparmaßnahmen auferlegt. Andererseits will man nicht auf die gewohnten staatlichen Leistungen verzichten, im Bedarfsfall soll alles wie bisher funktionieren. Daß das nicht geht, hätte eigentlich klar sein müssen. Natürlich fühlen sich die Politiker, die den Staat schwindsüchtig werden ließen, in keinster Weise verantwortlich. Verantwortlich gemacht werden bloß die Kleinen, in diesem Fall die Mitarbeiter des Bremer Jugendamts, gegen die bereits staatsanwaltschaftliche und disziplinarische Ermittlungen laufen. So ist es immer: Lebensmittelkontrolleure werden eingespart, aber die ganze Republik regt sich über Gammelfleischskandale auf. Bei der Polizei werden Stellen abgebaut, doch wenn man sie braucht, soll sie blitzschnell da sein. Man beklagt Steuerhinterziehung, stellt freilich nicht genug Betriebsprüfer ein, mit deren Hilfe sie zu reduzieren wäre. Leider konzentriert sich die Öffentlichkeit bei Skandalen vorwiegend auf die Symptome, die wahren Ursachen bleiben meist im dunkeln. Wir müssen entscheiden, was wir vom Staat wollen. Und wenn wir entschieden haben, müssen wir für das, was wir wollen, auch bezahlen. Wer sparen will, soll offen sagen, worauf seiner Meinung nach verzichtet werden kann. Mit allen daraus resultierenden Konsequenzen. Drastisch sparen und auf nichts verzichten, ist jedoch unmöglich. Das gehört ebenfalls gesagt, wenn jetzt bundesweit über Kevins Tod diskutiert wird.

Nachtrag (18.01.2007):
Aus einem Bericht der Frankfurter Rundschau über den Bremer Untersuchungsausschuss: "Der Amtsvormund des tödlich misshandelten Kevin hat seine Vorgesetzten mehrfach erfolglos auf seine Arbeitsüberlastung hingewiesen. (...) Nach Sparmaßnahmen der letzten Jahre hätten im Jugendamt zuletzt nur noch drei Vormünder auf 2,75 Planstellen 640 Kinder betreut. 'Das ist nicht leistbar', klagte der Diplom-Sozialarbeiter als Zeuge vor dem Ausschuss. 'Aber das hat niemanden interessiert.' Hinzu komme, dass 'uns alle Schreibkräfte weggenommen wurden'. Deshalb müsse er jetzt halbtags selber am Computer sitzen. Immer wieder hätten er und seine Kollegen die Vorgesetzten mündlich und schriftlich auf diese Belastung hingewiesen - sogar mit förmlichen Überlast-Anzeigen. Auch der (inzwischen zurückgetretenen) Jugend- und Sozialsenatorin Karin Röpke (SPD) habe er am Rande eines Termins die Zustände 'deutlich geschildert'. Aber all das habe nichts bewirkt, sagte der Vormund."