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27. Februar 2008, von Michael Schöfer
Gesunde Skepsis notwendig


Früher war es leicht: Wenn man etwas wissen wollte, schlug man einfach in einem Lexikon nach, dort fand sich dann meist die gesuchte Information. Die darin enthaltenen Angaben erweckten zumindest den Anschein der Zuverlässigkeit. Vergleichsmöglichkeiten waren aber rar, denn nur wenige besaßen - wenn überhaupt - mehr als ein Lexikon. Wer es sich leisten konnte, hatte zu Hause die 30-bändige Brockhaus Enzyklopädie im Regal stehen. "Auf 24.500 Seiten umfasst die Enzyklopädie rund 300.000 Stichwörter und etwa 40.000 Bilder, Satellitenaufnahmen, Grafiken und ganz- oder mehrseitige Bildtafeln." Zudem sind in ihr 2.600 Tabellen und 193 umfassende Länderartikel enthalten. (Brockhaus-Werbung) Doch kaum jemand stellt sich heutzutage noch 30 schwere Lederbände ins Wohnzimmer, überdies zu einem solch horrenden Preis (2.670 Euro). Höchstens Bibliophile, weshalb die 21. Auflage der Brockhaus Enzyklopädie wahrscheinlich die letzte ist, die man in Papierform erwerben kann. Dafür startet das Bibliographische Institut am 15. April 2008 das kostenlose Lexikonportal "Brockhaus online", das die Inhalte der gedruckten Brockhaus Enzyklopädie umfassen soll.

Viele haben heutzutage Internet-Anschluss und begeben sich somit dort auf die Suche. It's so easy: Die freie Enzyklopädie Wikipedia bietet eine Fülle von Informationen - und das zum Nulltarif. Die Qualität von Wikipedia ist darüber hinaus anerkanntermaßen ziemlich gut. So hat etwa der Stern Wikipedia mit einem Brockhaus-Lexikon verglichen. "Für den stern-Test wurden 50 zufällig ausgewählte Einträge aus den Fachgebieten Politik, Wirtschaft, Sport, Wissenschaft, Kultur, Unterhaltung, Erdkunde, Medizin, Geschichte und Religion überprüft. Die vier Kriterien Richtigkeit, Vollständigkeit, Aktualität und Verständlichkeit wurden mit Schulnoten bewertet. Wikipedia erzielte über alle Bereiche eine Durchschnittsnote von 1,7. Die Einträge zu den gleichen Stichworten in der kostenpflichtigen Online-Ausgabe des 15-bändigen Brockhaus, die nach Verlags-Angaben 'permanent aktualisiert' wird, erreichten lediglich eine Durchschnittsnote von 2,7." [1] "An den [Artikel von] Wikipedia bemängelt der Stern lediglich, dass sie manchmal zu ausschweifend und langatmig sind - allein in der Kategorie 'Verständlichkeit' kann Brockhaus gegen die kostenlose Alternative punkten. Damit entspricht das Ergebnis im Wesentlichen dem Enzyklopädien-Test in der c't-Ausgabe 6/2007", pflichtet dem die renommierte Computer-Zeitschrift c't bei. [2]

Trotzdem ist es zu begrüßen, wenn die Brockhaus Enzyklopädie bald online geht, denn eine größere Auswahl an unterschiedlichen Quellen kann nie schaden. Allerdings ist gegenüber den dortigen Infos eine gehörige Portion Skepsis angebracht. Bekanntlich ist nicht alles, was im Internet zu finden ist, auch richtig. Wie notwendig es ist, zuverlässige Angaben aus der Informationsflut herauszufiltern, belegt folgendes Beispiel. Im Rahmen der Diskussion um den Treibhauseffekt suchte ich kürzlich nach Daten darüber, wie hoch in den Niederlanden der Anteil des Staatsgebiets ist, der bereits heute unter dem Meeresspiegel liegt. Das habe ich bei meiner Recherche gefunden:

"Ein Fünftel des von Kanälen durchzogenen Landes liegt unter dem Meeresspiegel." [3]

"Ungefähr die Hälfte des Landes liegt weniger als einen Meter über, rund ein Viertel des Landes unterhalb des Meeresspiegels." [4]

"Etwa ein Drittel der Landesfläche liegt unter dem Meeresspiegel." [5]

"Das hinter den Deichen zu vierzig Prozent unter dem Meeresspiegel liegende Land..." [6]

"Fast die Hälfte der Niederlande liegt unter dem Meeresspiegel." [7]

Was ist nun richtig? Ein Fünftel (20 Prozent), rund ein Viertel (25 Prozent), etwa ein Drittel (33 Prozent), zwei Fünftel (40 Prozent) oder fast die Hälfte (50 Prozent)?

Die Holländer selbst sagen: "Ein Viertel des Landes liegt unter dem Meeresspiegel." [8] Und ich denke, die wissen darüber wohl am besten Bescheid, schließlich leben die dort. Wie man unschwer erkennt, stimmt diese Angabe mit dem Inhalt von Wikipedia überein. Also abermals Punktsieg für die freie Enzyklopädie.

Bisweilen irren selbst professionell gemachte Lexika. Die Online-Ausgabe von Meyers (zur "Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG" gehörend) behauptet beispielsweise: "Nahezu die Hälfte des Landes liegt unter dem Meeresspiegel." [9] Das ist, siehe oben, falsch. Vom Platzbedarf für die 30 Bände einmal ganz abgesehen, will natürlich auch ich mir kein sündhaft teures Nachschlagewerk in den Bücherschrank stellen. Was in der Brockhaus Enzyklopädie steht, kann ich demzufolge erst am 15. April überprüfen. Aber in einem einbändigen Lexikon, das der Compact-Verlag 1983 herausgegeben hat, steht: "Über ein Drittel der Fläche liegt unter dem Meeresspiegel." (Seite 569) Das Copyright dieser Ausgabe lag, Sie werden es kaum glauben, bei F.A. Brockhaus. Auf das Ergebnis bei der Brockhaus Enzyklopädie darf man also gespannt sein.

Dessen ungeachtet sollte man Angaben, die aus dem Internet stammen, generell eine gehörige Portion Skepsis entgegenbringen und möglichst mehrere Quellen heranziehen. Was tatsächlich richtig ist, lässt sich nämlich - wenigstens auf den ersten Blick - selten erkennen.

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[1] Stern vom 05.12.2007
[2] heise-online vom 05.12.2007
[3] schwarzaufweiss.de
[4] Wikipedia, Niederlande
[5] Erdkunde-Wissen.de
[6] Weiterbildungskolleg des Kreises Viersen
[7] Bundesagentur für Arbeit
[8] Niederländisches Außenministerium
[9] Meyers LexikonOnline 2.0